Sagen die Wähler am 25. Mai deutlicher, was sie von der Europapolitik ihrer Parteien oder von der Regierung halten, als bei den Europawahlen zuvor?

Aus dem Schatten der Kammerwahlen

d'Lëtzebuerger Land vom 14.03.2014

Hat die neue DP/LSAP/-Grünen-Regierung eine erste Warnung aus den Wahlkabinen verdient? Wie weit halten die Wähler die Institutio­nalisierung der Austeritätspolitik in Europa für unvermeidlich? Lassen sich der automatische Informationsaustausch, die Besteuerung des elektronischen Handels, die Asylpolitik oder die Verbreitung von Gen-Mais durch die Wahl von sechs Europaabgeordneten beeinflussen?

Das sind einige der Fragen, welche die Wahlberechtigten bei den Europawahlen am 25. Mai beantworten sollen. Am Mittwoch in acht Tagen, dem 26. März um 18.00 Uhr, nimmt das Bezirksgericht in der Hauptstadt die letzten Kandidaturen für den einzigen, landesweiten Wahlkreis entgegen. Voraussichtlich werden, wie bei den Legislativwahlen am 20. Oktober, wieder neun Listen kandidieren: neben den im Europaparlament vertretenen CSV, DP, Grünen und LSAP auch die in der Kammer vertretenen ADR und Linke sowie die Kommunistische Partei, die Piratenpartei und Jean Columberas Partei für integrale Demokratie.

Erstmals seit der Einführung der Direktwahl zum Europaparlament vor 35 Jahren sind die bevorstehenden Europawahlen die ersten hierzulande, die nicht zeitgleich mit den Legislativwahlen stattfinden. Deshalb dürften sie mehr Aufmerksamkeit als die Europawahlen zuvor genießen. Denn weil die Wähler – und die Parteien – die nationalen Wahlen für weit wichtiger als die Europawahlen halten, fanden Letztere bisher immer nur im Schatten der Legislativwahlen statt.

Zwar hatte in der Vergangenheit eine EU-freundliche Mehrheit der Parteien wiederholt verlangt, Legislativ- und Europawahlen an unterschiedlichen Daten zu organisieren. Doch sie unternahmen nichts, um das Wahlgesetz dahingehend zu ändern. Erst durch die vorgezogenen Kammerwahlen vergangenes Jahr sind die Wahlgänge nun zeitlich getrennt und könnten es auch bleiben, falls keine neuen Regierungskrisen einen Strich durch den Kalender machen.

Für das geringe Ansehen, das die Europawahlen genießen, spricht auch, dass die Parteien nicht nur ihre ungeliebten Landespolitiker nach Straßburg aufs Altenteil schickten, den berüchtigten „Opa nach Europa“, sondern auch nicht davor zurückschreckten, ihre bekanntesten Landespolitiker zu den Europawahlen kandidieren zu lassen, um ein Maximum an Stimmen zu sammeln, ohne dass diese Kandidaten aber ihr Mandat in Straßburg angenommen hätten. So dass oft Kandidaten ins Europaparlament nachrutschten, welche die Wähler im Grunde gar nicht dahin schicken wollten. Das kann dazu führen, wie beispielsweise der CSV schon geschehen, dass sie die letzten Ersatzgewählten mobilisieren muss, um ihre Mandate zu bekleiden. Dabei durften sich bis 2004 sogar zwölf Kandidaten pro Liste um sechs Sitze bewerben.

Obwohl Mandate im nationalen und im europäischen Parlament unvereinbar sind, hat auch dieses Jahr fast jede Partei einen nationalen Deputierten auf ihrer Europaliste, ohne dass sicher ist, dass er auch seinen Platz auf dem Krautmarkt zu räumen bereit ist, falls er im Mai gewählt wird. Bei der LSAP kandidiert Marc Angel, bei den Grünen Claude Adam, bei der Lénk Justin Turpel und beim ADR bewerben sich gleich drei nationale Abgeordnete, Gast Gibéryen, Fernand Kartheiser und Roy Reding.

In den letzten 30 Jahren, als beide Wahlen stets zeitgleich stattfanden, entwickelte sich der Stimmenanteil der Parteien bei den Kammer- und den Europawahlen meist parallel. So als ob die Wähler davor zurückschreckten, beim selben Wahlgang eine andere Partei auf den Krautmarkt als nach Straßburg zu schicken. Die trotzdem feststellbaren Abweichungen erklärten sich wohl durch den Einfluss des Panaschierens, wenn die Wähler bei den Kammerwahlen Kandidaten aus ihrem regionalen Wahlkreis, bei den Europawahlen aber Prominente aus einem landesweiten Wahlkreis wählen können.

Insbesondere bei CSV und LSAP sind die Stimmenanteile bei den Landes- und den Europawahlen jeweils fast identisch. Bei der mehr von landesweit bekannten Notabeln abhängigen DP ist die Entwicklung weniger einheitlich, so dass der persönliche Erfolg des Europaabgeordneten Charles Goerens 2009 die Diskrepanz zum enttäuschenden Resultat bei den Landeswahlen vergrößerte. Die grünen Europalisten bekamen stets mehr Stimmen als die grünen Listen zu den Kammerwahlen, vielleicht wegen ihrer grenzüberschreitenden Ideologie und ihres kleineren Reservoirs an bekannten Kandidaten. Die ADR bekam dagegen stets mehr Stimmen bei den Landes- als bei den Europawahlen. Ihr langjähriger Geschäftsfundus, die Renten, ist nun einmal eine nationalpolitische Frage, zudem wurde die ADR im Laufe der Zeit EU-kritischer. Bei der Kommunistischen Partei und der Linken weichen die europäischen Wahlergebnisse nur wenig von den natio­nalen ab, doch ist die Entwicklung uneinheitlich.

Zudem sind die programmatischen Unterschiede so gering, dass die meisten Parteien Schwierigkeiten haben, sich zu differenzieren. Ein Teil der Parteien übernimmt das eher vage Programm ihres europäischen Dachverbands, wie der Europäischen Volkspartei durch die CSV oder der Sozialdemokratischen Partei Europas für die LSAP.

Die Differenzierung ist nicht einfach, weil das Bekenntnis zur europäischen Integration zur ideologischen Grundausstattung aller Parteien gehört, die Regierungsverantwortung übernehmen wollen. Hinzu kommt eine als nationales Interesse empfundene Vorreiterrolle bei jeder Vertiefung der Integration, ein Festhalten an der Gemeinschaftsmethode und die Verteidigung der letzten Souvärinätsnischen.

In ihren erst wenige Monate alten nationalen Wahlprogrammen fordern fast alle Parteien sozia­le Mindestandards in der Europäischen ­Union und versprechen, zum Erfolg der Présidence nächstes Jahr beizutragen. Doch nach der jahrzehntelangen EUphorie sind sie auch bereit, die unter einer Legitimationskrise leidende weitere europäische Integration zumindest zu bremsen. Die CSV ist einer „Rückführung europäischer Kompetenzen in nationalsaatliche Zuständigkeit“ nicht abgeneigt, DP und LSAP wollen den Einfluss der nationalen Parlamente stärken. Die DP pocht auf das Subsidiaritätsprinzip und lehnt das „Direktorium der großen Länder“ ab.

Die LSAP und die Linke versprechen Wachstum und Beschäftigung als Ersatz für die derzeitige EU-Politik der Austerität und des Sozialabbaus. Vor allem die Grünen wollen die Institutionen der EU stärken, die Wirtschafts- und Finanzpolitik vermehrt koordinieren und eine Finanztransaktionssteuer einführen. Die ADR bekennt sich dagegen zu einem „Europa der Vaterländer“, verteidigt die „Souveränität Luxemburgs in Steuerfragen“ und verlangt Referenden über jede Erweiterung der EU. Vom europapolitischen Konsens weicht neben der ADR nur noch die Kommunistische Partei ab, die in ihrem Wahlprogramm für die Europawahlen den Vertrag von Lissabon, die Währungsunion und den Euro als unreformierbar abschaffen will.

Am 25. Mai sind nur sechs Mandate in einem einzigen, landesweiten Wahlkreis zu vergeben. Der Europaabgeordnete Robert Goebbels rechnete am Montag auf dem außerordentlichen Parteitag der LSAP vor, dass 14 Prozent der Stimmen für ein Mandat in Straßburg nötig seien, so dass jede Stimme für eine kleine Partei „verloren“ sei. Die für ein Mandat nötige Stimmenzahl ist so hoch, dass große Veränderungen bei der Sitzverteilung unwahrscheinlich sind. So dass die Parteien meist weniger darum kämpfen, zusätzliche Sitze zu gewinnen, als zu verteidigen, was sie haben. Und die Wähler von der herausragenden Wichtigkeit der sechs Luxemburger in einem Meer von 751 Europaabgeordneten zu überzeugen, ist meist vergebliche Liebesmühe.

Seit 1979 wechselte alle zehn Jahre ein Sitz die Farbe: 1984 ging ein DP-Sitz an die LSAP, 1994 ging ein CSV-Sitz an die Grünen, 2004 ging ein LSAP-Sitz an die CSV. In diesem Rhythmus wäre es 2014 an der Zeit, dass wieder eines der sechs Luxemburger Europamandate wanderte...Mit Spannung wird abgewartet, welche Auswirkungen die zeitliche Trennung der Europawahlen von den Landeswahlen haben wird.

Am 25. Mai stellt sich also die Frage, ob die Wähler deutlicher als bei den Europawahlgängen zuvor ihre Meinung zur Europapolitik der Parteien ausdrücken. Der knappe Ausgang des Referendums über den Europäischen Verfassungsvertrag zeigte 2005, in welchem Umfang die Europapolitik mancher Parteien von den eigenen Wählern desavouiert werden kann. Möglich ist aber auch, dass nach der Erklärung zur Lage der Nation manche Wähler in der Wahlkabine ein erstes Signal zur Politik von DP, LSAP und Grünen senden wollen. Andere Länder, in denen Legislativ- und Europawahlen nicht zum selben Zeitpunkt stattfinden, haben nämlich die Erfahrung gemacht, dass die Wähler Europawahlen gerne benutzen, um die Regierung zu warnen oder zu strafen. Bei Europawahlen können sie den Regierenden ihren Missmut ausdrücken oder extremistisch wählen, ohne dass dies unerwartete Konsequenzen für die nationale Politik hat.

Die Berechnung der Sitzzahl führt dazu, dass die CSV bei den Europawahlen mit einem Drittel der Stimmen die Hälfte der Sitze erhält. Deshalb ist sie am 25. Mai bestrebt, ihre drei Mandate zu verteidigen. Wobei ihr nationaler Europawahlkampf vom europäischen Wahlkampf Jean-Claude Junckers als Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei überschattet wird. Die LSAP hat sich wieder vorgenommen, ihr 2004 verlorenes zweites Mandat zurückzuerobern. Aber dafür müsste sie ihren jahrzehntelangen Abwärtstrend bei den Europawahlen umkehren. Die Grünen sind bemüht, das Mandat von Claude Turmes zu verteidigen, machen sich aber keine Ilusionen über den Gewinn eines zweiten Mandats. Mit einem Stimmenanteil von acht Prozent, Tendenz absteigend, ist die ADR weit von einem Mandat entfernt. Das gilt noch mehr für die Kommunisten, die Linke, die Piratenpartei und die Pid.

Romain Hilgert
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