Baguettes und Vollkornbrot sind Kulturgut. Trotzdem sind zwei von drei Bäckereien auf Personalsuche

Homeoffice statt Backstube

Fueskichelcher aus der Backstube Scott
Photo: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land du 17.02.2023

Derzeit sind 3 800 Stellen im Handwerk nicht besetzt. Damit hat sich die Suche nach geeigneten Kandidaten gegenüber Vorpandemiezeiten verschärft. Seit 2019 ist die Nachfrage gar um 20 Prozent gestiegen. Als Hauptgrund für die Nichtbesetzung geben die Betriebe in einer repräsentativen Studie der Handwerkskammer fast einstimmig an, die Profile der Arbeitssuchenden, würde nicht zu den vakanten Plätzen passen. Bei fast die Hälfte der Posten handelt es sich um neugeschaffene – trotz weltweiter makroökonomischer Großwetterlage sind demnach neue Arbeitsplätze entstanden. Vor allem Maurer, Elektriker, Heizungsinstallateure und Automechaniker sind gefragt. Auch der Frühaufsteher-Beruf Bäcker führt die Liste an.

Die Boulangerie Molitor mit Verkaufsposten in Lamadeleine, Mamer und Kleinbettingen sucht bereits seit Juli 2022 Bäckernachwuchs. „D’Leit si kamout, et wëll kee méi fréi opstoen“, bedauert Nico Müller. Ein Lehrling von ihm hat nach einem Jahr die Ausbildung hingeschmissen: „meine Freunde gehen Samstagsabends weg und ich konnte nicht mitfeiern“, zitiert ihn der Bäckermeister. Er selbst hat vor 30 Jahren als Bäcker in unterschiedlichen Backstuben gearbeitet. Mal musste er abends um zehn anfangen, mal um zwei nachts. Die Bedenken der Jugendlichen kann er deshalb nachvollziehen. Der Beruf sei zudem eine Herausforderung für das Familienleben: „Et brauch een eng Fra, déi dee Liewensrhythmus matspillt“. Darüber hinaus werde der Beruf kaum wertgeschätzt: „Mütter erzählen lieber beim Friseur, ihr Sohn sei Arzt oder Anwalt. In der Schweiz, wo ich regelmäßig an Fachhochschulen zweisprachiges Lehrmaterial für die Bäckerausbildung abhole, ist das anders. Dort stoßen Handwerksberufe auf Zustimmung.“ Als Beisitzender bei der Bäckerprüfung meint Nico Müller zu beobachten, dass die meisten Jugendlichen den Beruf nicht aus eigener Motivation heraus gewählt haben, „mee wëll soss näischt méi iwwreg war“. Aber nicht nur: Bei der letzten Prüfung tauchten auch weit in die 30-Jährige Frauen auf, die ihre Leidenschaft für die Konditorei entdeckt hatten. Von seinen 14 Angestellten sind derzeit fünf Bäcker, allesamt Männer und Grenzgänger aus Frankreich.

53 Prozent der in Luxemburg beschäftigten Handwerker/innen stammen aus den Nachbarländern. Mittlerweile aber ist die Großregion leer gesaugt, auch hier herrscht ein virulenter Fachkräftemangel, analysiert Wirtschaftsjournalist Uwe Hentschel im Luxemburger Wort. Die Handwerkskammer schlug deshalb während einer Pressekonferenz letzte Woche vor, in Marokko und Tunesien zu rekrutieren und fordert die Regierung auf, den Zugang zum hiesigen Arbeitsmarkt für nicht EU-Bürger/innen zu erleichtern. Zwar solle man weiterhin Richtung Osteuropa blicken, aber durch die europäischen Mindestlohnstandards sind die Arbeitsbedingungen vor Ort attraktiver geworden und die Bereitschaft zur Arbeitsmigration gesunken. Der Mittelstandsminister Lex Delles zeigte sich in einem Quotidien-Interview offen für die Forderungen der Handwerkskammer: „Je pense qu’il faut creuser toutes les pistes, car le problème de main-d’oeuvre n’est pas uniquement un problème luxembourgeois mais européen“. Wahrscheinlich kommt er diesen Vorschlägen entgegen, weil in seinem Hinterkopf das Wissen um den anhaltenden demografischen Wandel spukt: Nachdem die Babyboomer-Generation das Licht der Welt erblickte, ging die Natalitätsrate in nahezu ganz Europa ruckartig zurück. Es ist gar nicht möglich Arbeitsplätze von in Rentegehenden ohne Zuzug zu besetzen.

Als weiteren Grund für den Fachkräftemangel wird neben der Abwertung von Handwerksberufen, der Rückgang an Ausbildungsplätzen während der Pandemiephase genannt. Zudem sei sogar im Bäckereiwesen die Konkurrenz staatlicher Institutionen groß. Anne Schaeffer, Geschäftsleiterin bei BioScott Gasperich, führt aus: „Auch nach einer Bäckerausbildung wird sich nach Posten in einem Ministerium oder bei der CFL umgeschaut. Letztes Jahr hat uns eine sympathische Verkäuferin verlassen; beim Staat verdient sie jetzt 1 000 Euro mehr. Mit solchen Gehältern können wir nicht mithalten.“ Ähnlich wie in der Bäckerei Molitor blieben zwei Bäckerposten über vier Monate unbesetzt. „Nach der Pandemie hat sich die Flucht aus den Handwerksberufen verschärft. Das Homeoffice-Modell und Bürozeiten statt nachts oder draußen zu arbeiten – das wünschen sich Arbeitnehmer“, sagt sie. Zwei von drei Bäckereien sind laut Handerkskammer auf der Suche nach Personal; bis zu 300 Arbeitnehmer/innen könnte die Branche insgesamt aufnehmen.

In dem mittelständischen Betrieb Jos a Jean-Marie in Mertzig arbeiten mittlerweile 220 Personen, davon 85 in der Produktion sowie drei bis vier Lehrlinge. In dieser nördlichen Region ebenfalls mehrheitlich Arbeitskräfte aus dem Ausland die Backstube am laufen, aber immerhin ein Drittel sind Einheimische. Das Unternehmen mit 16 Verkaufsläden hat in den vergangen Monaten Bäcker von kleineren Bäckereien, die in Konkurs gingen, übernommen. Dennoch könnte es morgen noch fünf weitere Arbeitnehmer aufnehmen, falls sich Kandidat/innen melden würden. „Mir sichen ëmmer Leit“, so der Geschäftsführende Bäckermeister Jean-Marie Neuberg. Um Jugendliche für den Beruf zu begeistern, organisieren sie einen Tag der offenen Tür: „Wir erläutern bei der Gelegenheit, dass man mit Sauerteig einige Brotsorten tagsüber vorbereiten kann und sich der Job durch technische Innovationen erleichtert hat.“

Aufgrund der Inflation meint Nico Müller festzustellen, dass sich das Kaufverhalten in den vergangenen Monaten verändert habe; „et gëtt bësse méi gespuert.“ Und wenn Brot gekauft wird, ist ein Mix aus unterschiedlichen Vorlieben erkennbar: „Wir sind sowohl von belgischen, deutschen und französischen Backtraditionen geprägt“, meint die Leitungsperson der Bäckerei Jos a Jean-Marie. „Sowohl das luftige belgische Brot, das kompakte deutsche Vollkornbrot als auch das französische Baguette sind beliebt“. Die Bäckerei Molitor unterscheidet nochmals nach Region: „In Lamadeleine verkaufen wir mehr Baguette, vielleicht weil es an der Grenze zu Frankreich liegt.“ Allgemein werde in Luxemburg noch immer viel Weißbrot gekauft, aber ein Trend hin zu mehr Vollkorn-Sorten sei beobachtbar. Überdies spiegele sich die sozioökonomische Situation einer Region im Kaufverhalten; in der Verkaufsstelle in Mamer werde gelegentlich eine Rieslingpastete zu viel gekauft.

Während Vollkornbrot von Ernährungsforschern gepriesen und Weißbrot als nährstoffarmes Gebäck herabgestuft wird, war es historisch betrachtet umgekehrt: Helle Brotsorten aus feinem Mehl waren ein Luxus, der reichen Bevölkerungsschichten vorbehalten wurde. Die breitere Gesellschaft leistete sich bis zum Spätmittelalter eher Brei – Brot war zu teuer. Und leistete sich die ärmere Bevölkerung Brot, dann eher grobes, dunkles. Der Ursprung der Brotback-Kunst geht jedoch viel weiter zurück: Wilder Hafer und Gerste wurden ab der mittleren Altsteinzeit zu Mehl vermahlen, gewässert und gebacken. Im Nordirak wurden über 40 000 Jahre alte Spuren von Wildgerste gesichert, die offenbar erhitzt worden waren. Erste Backöfen wurden bereits um 2500 vor Christus in Ägypten entwickelt, wo vermutlich erstmals Sauerteig verwendet wurde. Im 19. Jahrhundert kommen industrielle Öfen und Teigknetmaschinen zum Einsatz, die das Bäckerhandwerk erheblich erleichterten. Zudem lösten sich damals die Zünfte auf und die Freiheit der Berufswahl setzte sich durch. In Europa ist Brot derweil Kulturgut: Seit November 2022 gilt das Baguette als „immaterielles Kulturerbe der Menschheit“. So hat es die UN-Kulturorganisation Unesco entschieden. Deutschland ist nicht weniger Brotversessen, es zählt mit über 300 registrierten Sorten beim Bäckerei-Verband die meisten weltweit.

Am Mittwoch schaltete sich der OGBL ebenfalls in die Fachkräftemangel-Debatte ein. Die Gewerkschaft urteilt, sie sei „das direkte Ergebnis einer kontraproduktiven“ Politik der Arbeitgeber. Jede „ernsthafte Diskussion über eine Aufwertung“ des Handwerks hätten sie verhindert sowie auch höhere Gehälter. Ohne auf die Stellungnahme angesprochen zu werden, erwähnte Jean-Marie Neuberg, Gewerkschaften sollten „aufhören Klein- und Mittlere-Unternehmen mit großen Industrien zu vergleichen“. Die Wertschöpfung pro Beschäftigtem falle in Handwerksbetrieben geringer aus als in anderen Branchen. „Geschäftsleiter von Handwerksbetrieben verdienen keine Millionen und fahren nicht mit protzigen Autos umher.“ Man wolle nicht mit Industriebossen verglichen werden. Ob sich mittelständische Unternehmen dennoch einer Diskussion über Kollektivverträge verschließen dürfen, – das ist eine andere Frage.

Nicht nur der Bedarf nach qualifiziertem Nachwuchs bleibt groß. Auch die Spannbreite der Gewinnmargen ist es: Kleinbäckereien haben das vergangene Jahre mit einem Gewinn von 3 000 bis 5 000 Euro abgeschloßen, mittelständische wie Jos a Jean-Marie mit knapp unter einer Million und die Großbäckerei Panelux zieht nochmals mehr als das Doppelte raus. Gab es 1970 noch 228 Bäckereien mit ein bis neun Mitarbeitern, sind es heute nur noch 27. Sehen sich kleine Betriebe durch die Konkurrenz bedroht? „Die Situation ist anders als in Deutschland, wo Industrie-Brötchen die Preise ordentlich drücken. Wir haben hierzulande eine solidarischere Preispolitik“, antwortet Nico Müller.

Stéphanie Majerus
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