In diesen Zeiten sind grüne Grundsätze Gold wert. Nur sie können die alte Bescheidenheits- und Verzichtsethik modisch einkleiden

Genügsam ist Brot ohne Butter

d'Lëtzebuerger Land vom 01.03.2013

Wie die anderen Parteien auch, sind die Grünen ein wenig ein Familienbetrieb. Präsidentin Sam Tanson erinnerte zu Beginn ihrer Rede am Samstagvormittag auf dem grünen Parteitag in Junglinster daran, wie „ein paar Leute um Muck Huss“ sich vor 30 Jahren „ein erstes Mal mit der Idee getroffen hatten, eine alternative grüne Partei zu gründen“. Am Nachmittag war es dann der Fraktionsangestellte Manuel Huss, der Sohn des ehemaligen Abgeordneten Jean „Muck“ Huss, der den Entwurf der neuen Prinzipienerklärung der Partei erläuterte.

Nach 30-jährigem Bemühen wollen die Grünen, welche die Sieger der Gemeindewahlen vor anderthalb Jahren waren, bei den Kammerwahlen nächstes Jahr endlich den Durchbruch schaffen und unumgänglich werden. Denn Oppositionspolitik habe nun einmal ihre Grenzen, klagte die Präsidentin, das Land nachhaltig und gerecht absichern könnten die Grünen nur aus der Mehrheit heraus. Frak­tionssprecher François Bausch zählte von der verwirrenden Haushaltspolitik über den Geheimdienst bis zur Cargolux entrüstet auf, wo die Regierung den von der CSV versprochenen „sicheren Weg“ verlassen habe. So dass er nur die eigene Partei als Schlüssel zu einer anderen Politik empfehlen konnte.

Das hatten die Grünen schon für 2009 geplant, bis die Angst vor der Finanz- und Wirtschaftskrise die Wähler scharenweise in die Arme der CSV trieb. Deshalb will die Partei bereits dieses Jahr 50 000 Euro in den Wahlkampf investieren und setzte der Kongress die statutarische Wahlkommission ein mit den beiden Präsidenten Christian Kmiotek und Sam Tanson, mit François Bausch,Françoise  Folmer, Gina Arvai, Abbes Jacoby, Christian Goebel, Tilly Metz und Collette Kutten. Die Kommission soll den Parteibezirken Vorschläge für die Kandidatenlisten unterbreiten.

Wichtigster Punkt des Kongresses und auch ein Teil der Wahlkampfvorbereitung war aber die Verabschiedung einer neuen Grundsatzerklärung, an der die Partei seit einem Jahr arbeitete. Die bisherige Grundsatzerklärung ist fast 20 Jahre alt. Sie wurde Ende 1994 angenommen, als die 1983 gegründete Grünalternative Partei und die 1986 abgespaltene Grüne Liste ökologische Initiative des damaligen Abgeordneten Jup Weber wieder fusionierten. Somit stellt sie, nach dem Aussterben der linksradikalen Grünen, auch einen politischen Kompromiss zwischen den alternativen, den liberalen und den unabhängigen, das heißt Fahrradwegen und Heckenschutz verhafteten Strömungen dar. Anders als die ein Jahrzehnt zuvor bei der Gründung verabschiedete „Prinzipienerklärung“ begann die Grundsatzerklärung 1994 mit den Stichwörtern „Ökologie“ und „ Natur“, warnte aber weiterhin messianisch vor dem ökologischen und „damit eng verknüpfte[n] soziale[n] Desaster. Schuld ist vielmehr ein schrankenloser industrieller Wachstumswahn“.

Fünf Jahre nach dem Beginn der nicht enden wollenden Finanz- und Wirtschaftskrise lässt die Vorstellung von industriellem Wachstumswahn heute schon fast Nostalgie aufkommen. Auch die Grünen kritisieren Werksschließungen bei Arcelor-Mittal, und Fraktionssprecher François Bausch klagte am Samstag über die mehr als 20 000 Arbeitsuchenden. Die von Jean-Claude Juncker einst „Spaßgesellschaft“ genannte Epoche der über fünf Prozent Wirtschaftswachstum, Einnahmeüberschüsse, Steuersenkungen, Kulturtempel, Wildbrücken, Krötentunnel, Kriegsschiffe und Mammerenten scheint unwiederbringlich zu Ende.

Dem passt sich die bei nur zwei Enthaltungen angenommene neue grüne Grundsatzerklärung an. Sie füllt gerade noch vier Seiten. Die bisherige war dagegen dreimal so lang, diejenige der deutschen Mutterpartei zählt sogar 190 Seiten, diejenige der österreichischen Schwesterpartei immerhin 88 Seiten. Statt konkret aufzuzählen, was die Partei tun und lassen will, kreist sie um sechs Module: Gerechtigkeit und Solidarität, Nachhaltigkeit und bewusste Lebensweise, humanistische Freiheit und Selbstbestimmung, Rechtsstaatlichkeit und Transparenz, gesamtgesellschaftliche Demokratie und Partizipation, Diversität und Zusammenhalt. Bei der Parteigründung vor 30 Jahren hieß das weniger gestelzt „ökologisch, sozial, basisdemokratisch, gewaltfrei und solidarisch“.

Heute ist die Prinzipienerklärung zuerst auf eine Symmetrie des Textes bedacht, und die Düdelinger Gemeinderätin Colette Kutten klagte während des Kongresses, dass er zu abstrakt sei, um von Außenstehenden begriffen zu werden. Deshalb erschlösse sich die Erklärung auch am besten bei der gleichzeitigen Lektüre der jeweils gültigen Wahlprogramme, empfahl Manuel Huss.

Ihre nunmehr modularen Prinzipien machen die Partei rasch anpassungsfähig an viele politische Konstellationen und können als Grundlage für unterschiedliche Wahlprogramme dienen. Denn heute sind grüne Grundsätze Gold wert. Nach dem Scheitern der Tripartite sehen die anderen Parteien mit ihren Sparappellen, Schuldenbremsen, selektiven Sozialpolitiken und schmerzvollen Anpassungen an die internationale Wettbewerbsfähigkeit beim Gros der Wähler nur als asoziale Spielverderber und Verräter an ihren Wählerbasen aus. Das auch in der nächsten Legislaturperiode geplante schrittweise Zurückdrängen der Lohnquote und des Sozialstaats lässt sich kaum noch mit dem katholisch inspirierten und deshalb etwas miefig wirkenden Bescheidenheits- und Verzichtsethos rechtfertigen. So dass derzeit nur grüne Prinzipien fähig sind, eine wenig populäre Wirtschafts- und Sozialpolitik als Rücksicht auf die Biosphäre und als Lob immaterieller Werte modisch einzukleiden.

Folglich beriet der Kongress am längsten über den Schlüsselausdruck „Suffizienz“, der in der Grundsatzerklärung keiner anderen deutschsprachigen grünen Partei auftaucht. Im deutschen Sprachgebrauch ist er als medizinischer Begriff vor allem durch sein Gegenteil bekannt, wie in „Niereninsuffizienz“. Déi Gréng benutzen „Suffizienz“ als Synonym für „Konsummäßigung“, als Heilmittel gegen einen „durch Überfluss geprägte[n] Lebensstil“ sowie „Konsum- und Produktionsexzesse“. Suffi­zienz gilt als ein Mittel, um, zusammen mit dem effizienten Gebrauch der natürlichen Ressourcen und präventiver Umwelt- und Gesundheitspolitik, das übergeordnete Ziel der Nachhaltigkeit zu erreichen.

Die politisch brisante Frage bleibt, wer Suffi­zienz üben soll. Denn an anderer Stelle steht die Grundsatzerklärung „für starke staatliche soziale Sicherheitsnetze, ein Steuersystem und öffentliche Einrichtungen, die soziale Kohäsion fördern, sozialer Spaltung präventiv entgegenwirken, den gesellschaftlichen Ausgleich sicherstellen, die menschliche Würde garantieren, materialistische Auswüchse verhindern und Chancengleichheit garantieren“. Zur sozialen Gerechtigkeit soll auch diejenige zwischen den Generationen, zwischen den armen und den reichen Ländern sowie zwischen den Geschlechtern kommen.

Manuel Huss hatte einen Änderungsantrag zu dem von ihm selbst vorbereiteten Text eingebracht, um „Suffizienz“ durch „suffiziente Lebensweise“ zu ersetzen. Der beigeordnete Gefängnisdirektor Carlo Reuland fragte besorgt, ob „Suffizienz“ überhaupt richtiges Deutsch sei. Aber der neue Präsident Christian Kmiotek hatte sich schlau gemacht: „Suffizienz“ sei deutsch, denn „wir haben gegoogelt“. Doch Reuland schlug als Alternative „Genügsamkeit“ vor. Als Germanistin pflichtete Colette Kutten Reuland bei und zog „genügsam“ oder „maßvolle Lebensweise“ vor. Das schien den Statistiker August Götzfried aber allzu sehr an den Katechismus zu erinnern, denn er definierte als deutscher Muttersprachler: „,Genügsam’ ist Brot ohne Butter“, und bevorzuge deshalb „maßvoll“.

Daneben bleibt ein für das grüne Selbstverständnis wichtiges Kapitel der Grundsatzerklärung die persönliche Selbstbestimmung, zu der mit Einschränkungen die Gewaltfreiheit und die „freie Entfaltung des eigenen Lebensentwurfs“ gehört, auch unabhängig von sexueller Ausrichtung oder Behinderung. Ein Antrag, die Religionsfreiheit unter den humanistischen Freiheiten aufzuzählen, wurde abgelehnt; sie fungiert nun unter dem allgemeinen Schutz „weltanschaulicher Überzeugungen“.

Ein weiterer Schwerpunkt ist die politische und gesellschaftliche Partizipation, zu der auch der Zugang zu Bildung und Kultur gerechnet wird. Wohl als Zugeständnis an die Piratenpartei taucht erstmals der Begriff der „Transparenz“ in der Grundsatzerklärung auf, wird Rechtsstaatlichkeit auf die „Deontologie in der Politik“ beschränkt. Das Prinzip der Diversität wird vom Artenschutz über die Immigration und die Pressefreiheit bis zur wirtschaftlichen Diversifizierung gedehnt.

Romain Hilgert
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