Diskotheken sind aktuell gezwungen, sich neu zu erfinden. Das stellt nicht nur sie selbst vor Probleme: Mit ihnen geht ein Druckventil der Gesellschaft verloren

Nachtaktive Spezies

d'Lëtzebuerger Land du 21.08.2020

13. März 2020, Luxemburg: Ein gleißendes Licht blitzt durch die Dunkelheit. Geblendete Bewohner der Nacht kneifen schützend die Augen zusammen, ihr genervtes Stöhnen ist selbst durch das Pfeifen im Ohr zu hören. Die Musik hat aufgehört, das letzte Glas ist fast leer. Zeit, nach Hause zu gehen, wie auch immer. Beim Verlassen der Diskothek übermotivierte Versprechen, dass die Party weitergehe, denn es wird immer lauter gemunkelt, dass es die letzte für eine lange Zeit sein könnte. Die Sonne kriecht über den Horizont, müde Diskogänger/innen ins Bett.

14. August 2020, gleicher Ort: Es ist ein lauer Abend nach einem heißen Tag. Normalerweise wäre der ungewöhnlich warme Sommer ein Gesprächsthema, aber nicht dieses Jahr. Die Nachteulen sind ans Tageslicht gezerrt worden, durch ein Virus, das sich nicht wegtanzen lässt. Alors on danse? Verboten. Nicht explizit, natürlich, aber die Tanzflächen sind und bleiben geschlossen. Stattdessen trinkt und isst man im Sitzen, untermalt von Musik, die leise genug ist, dass geredet werden kann. Um Mitternacht machen sich die letzten verhinderten Nachteulen auf den Weg. „Die meisten Gäste sind normalerweise um diese Zeit gekommen, jetzt müssen wir sie schon vor Mitternacht nach Hause schicken“, klagt der Besitzer des Nachtclubs – laut Statec einer von etwa (die Zahlen und Definitionen sind wacklig) 28 im Großherzogtum. In welchem sich diese Szenen abspielen, sei der Fantasie des Lesers überlassen, denn sie sind in allen Diskotheken und Clubs die gleichen: Die gemeine Nachteule hat ihren natürlichen Lebensraum verloren und mit ihrem zeitweiligen Verschwinden sind die Besitzer von Diskos und Clubs, groß und klein, gezwungen, sich neu zu erfinden, ohne Spielraum für Fehler. Adapt or die im Blindflug.

Ausweichpläne Die Lage der Nachtclubs und Diskotheken ist seit März erdrückend: „Wir waren die Ersten, die schließen mussten und werden wohl die Letzten sein, die wieder normal arbeiten können“, sagt Edvin Huremovic, Geschäftsführer des M Club in Hollerich. Normalerweise trudelten hier spätabends rund 1 000 Gäste an, um die Nacht durch zu tanzen. Nun sind es etwa 400, an festgelegten Sitzplätzen, zum Essen und Trinken. Bestellt wird am Tisch, an dem nie mehr als zehn Leute gleichzeitg sitzen dürfen. Im Melusina in Clausen zeichnet sich ein ähnliches Bild ab: Die Diskothek wurde innerhalb von drei Wochen zum Restaurant umfunktioniert, Neuland für das Team um Geschäftsführer Dany Crovisier: „Wir hatten jetzt fünf Monate kein Einkommen, dann wurde ordentlich in den Umbau investiert und jetzt müssen wir hoffen...“ Hoffen, dass die laufenden Kosten bezahlt werden können, dass das Überleben gesichert, oder zumindest die Insolvenz nach hinten verschoben werden kann. Die Unternehmensfreudigkeit der Clubs kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Quereinstieg in einen gesättigten Markt wie die Restauration einem Akt der Verzweiflung nahekommt. Denn die Kosten laufen weiter. Kleine Gesten helfen, sind aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein: M Immobilier, bei denen alle Diskotheken in den Rives de Clausen Untermieter sind, hat diesen laut Generaldirektor Serge Libens am Anfang des Sommers einen Monat Miete erlassen.Qui dit crédit dit créance – qui dit dette te dit huissier...

Das De Gudde Wëllen hatte sein touch-and-go bereits, konnte sich nur über Wasser halten, weil die Stadt Luxemburg in letzter Sekunde die Genehmigung gab, eine Terrasse in der Corniche zu betreiben. Direkt davor stand das Konto auf null, erinnert sich Luka Heindrichs, einer der drei Geschäftsführer des Kulturhaus-Café-Nachtclub-Hybrids. Die Zeit zwischen dem Lockdown und der Eröffnung der Terrasse die in drei Tagen aufgebaut wurde, konnten sie nur dank „sechs Bombenmonaten davor“ überbrücken. Die neue Terrasse erlaubt zwar nicht, die Regeln zu umgehen, macht diese aber für die Gäste weit erträglicher, erlaubt, ihre Erwartungen zu erfüllen: Hier ist gemütliches Sitzen nicht ungewöhnlich, sogar Sinn und Zweck der Sache. Diese Lösung hat ihre Vorteile, auch für Gäste, die sich nicht nur über die Aussicht freuen: „Es ist weniger stressig“, beschreiben die Studierenden Stella und Pol ihren entspannte Mittwochabend, Bier und Cocktail in der Hand, „hier darf man sitzen“. Es sei an dem Abend etwas ruhig, sagt Heindrichs über die fast volle Terrasse, „wohl, weil das Wetter vorher nicht so toll war“. Hier hört man Englisch, da Holländisch und Spanisch: Ein großer Teil der Kundschaft sind Touristen. Leute die den etwas verwinkelten Weg ins Café nicht gefunden hätten. Auch bei der Eröffnungsnacht des umfunktionierten Melusina wurde schnell klar: Der Stammkunde wurde ersetzt, bunte Partyvögel weichen Frackträgern.

Diese Gäste sind eine neue, unbekannte, „gehobenere“ Schar, und ihre Wünsche – für die Besitzer der Nacht ebenfalls oft neu – wollen erfüllt werden, sollen die Rechnungen am Ende des Monats bezahlt werden. „Wir waren es gewohnt, dass die Leute nach dem Abendessen im Restaurant zu uns kommen und wir ihnen quasi nur noch ein Getränk hinstellen müssen. Nun sagen sie uns, wir müssten an der Menuauswahl arbeiten“, fasst Crovisier den ersten Testlauf zusammen: Dennoch nennt er es einen vorläufigen Erfolg, der mit neuen Herausforderungen einhergeht. Die Wiedereröffnung wird alleine deshalb schon als positiv aufgefasst, weil nach Monaten Stillstand überhaupt etwas passiert. Trotzdem bleibt die Existenzangst, sie ist nur vorübergehend in den Hinterkopf verbannt: „Wir sind immer noch im kleinen Luxemburg, mit so einem Umbau hat man da nur eine Chance...“ Denn Mundpropaganda verbreitet sich wie ein Lauffeuer, vor allem nach monatelanger Informationstrockenheit. Es ist ein Tauziehen zwischen Identitätswahrung und Überlebenszwang: „Wir sind immer noch das Melu, die Leute kommen, um sich zu amüsieren, um zu lachen und nebenher zu essen“, hofft der Geschäftsführer der alteingesessenen Diskothek. 

Invasive Spezies Es fällt auf: Keine dieser Ausweichaktivititäten ist disco. Eher sind sie distinkt undisco. Was, wenn der Tinitus aber so weit abklingt, dass die Welt und die eigenen Gedanken zu laut werden, wenn Dampf abgelassen, Frust weggetanzt werden muss? Denn das Nightlife erfüllt für viele die wichtige gesellschaftliche Aufgabe des Druckventils. In relativer Sicherheit etwas den Kopf verlieren. Alors on sort pour oublier tous les problèmes. Hygieneregelungen können den Dancefloor evakuieren, aber nicht die Natur des Menschen ändern: Die Nachteulen sind nicht ausgestorben, sie sind lediglich zu Zugvögeln geworden, die neue Lebensräume suchen. Geschätzte
10 000 Leute haben sich Anfang August in Lozère in Südfrankreich zu einer nicht genehmigten oder überhaupt angefragten, mehrere Tage langen Rave getroffen, die 80 anwesende Polizisten nicht aufzubrechen vermochten. In gewohnt kleinerer Fasson, aber im gleichen Geiste, liest man in Luxemburg von „illegalen Parties“ mit 150 bis 180 Besuchern im Bambësch, oder  je 100 Leuten in Kockelscheuer und  Strassen. In Differdingen konfiszierte die Polizei indes nicht nur Zelte, Partybeleuchtung und Kühlschränke, noch bevor diese aufgebaut werden konnten, sondern auch direkt Flyer mit Listen der auftretenden DJs. Es sollten Getränke vor Ort verkaufen werden, im Stehen am Tresen. Das klingt sehr disco. Ganze 30 Personen wurde laut Polizeibericht hier erwischt; nicht beim partymachen, sondern beim partyvorbereiten. Ça prend des tripes. Et ben y en a encore: Eine angekündigt nicht angekündigter Party-Protest-Mischling ist in Köln unter dem Motto „Kulturbewegt, Rettet die Veranstaltungsszene“ geplant und in Manchester eskalierte ein Treffen, das von der Veranstalterin laut eigener Aussagen als „kleine Hausparty“ geplant war: 200 Tanzbedürftige schickte die Polizei nach Hause. 

Dampfkochtopf Solche „wilden Parties“ sind keine langfristige Lösung für das unerfüllte Verlangen nach Feiern, aber sie zeichnen das Bild einer Gesellschaft, die unter Covid-Stress steht. Bleiben die Hygieneeinschränkungen, wie sie heute in Kraft sind, bestehen, wird sich die Polizei auf ein langes nächtliches Katz- und Mausspiel einstellen müssen. Ein Vergleich mit der Prohibition wäre ein schiefer, aber die Parallelen sind nicht von der Hand zu weisen. Zu bekannt wirkt der Versuch, ein gesellschaftlich tief verankertes Bedürfnis zu verbieten – so lauter die Absichten hinter dem Verbot auch sein mögen –, das dermaßen einfach und von jedem im großen und kleinen Stil umgangen werden kann. Es bleibt alleine, an die Vernunft und Rücksicht der Leute zu appellieren. Nur lassen sich emotionale Bedürfnisse nicht wegrationalisieren. Das Dilemma: Unterschätzt eine Person das Virus, steigt die Chance, dass sie die Regeln bricht. Respektiert sie die Regeln, steigt der Stress und damit das Bedürfnis nach Druckausgleich. Nach ersten vorsichtigen Schätzungen des European monitoring center for drugs and drug addiction ist der Alkoholkonsum in Europa seit dem Beginn der Pandemie angestiegen, obwohl die sozialen Anlässe zu trinken deutlich seltener geworden sind. Das Institut erklärt den Anstieg zumindest teilweise durch Angst, die mit dem Lockdown einhergegangen ist. Das Druckventil ist verstopft und im Topf beginnt es zu brodeln. Alors on danse.

Misch Pautsch
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