Wahlprogramm der Grünen

Das Recht auf Ruhe

d'Lëtzebuerger Land vom 09.10.2003

So wie die CSV derzeit fortschrittlich, die LSAP Volkspartei und die DP sozial sein will, so wollte seit ihrer Gründung die grüne Partei auch immer ein wenig etwas anderes sein, als sie ist. Denn eine ökologische Nische ist für jeden leicht erkennbar, außer für den, der darin sitzt.
Doch das Wahlprogramm, das knapp 80 grüne Aktivisten am Sonntagnachmittag im finsteren Backsteinbau des Bonneweger Kulturzentrums bei einer Enthaltung verabschiedeten, zeigt in doppelter Hinsicht, dass die Partei endlich zu sich selbst gefunden hat.
Wahlprogramme sollen nicht nur als Handlungsvorschläge die Sympathien der Wähler anziehen, sie sind auch ein Prozess, in dem eine Partei ihre politische Identität verhandelt. Um so bemerkenswerter war am Sonntag, wie das geschah: nicht mehr als kontradiktorische Debatte zwischen einem linken und einem rechten, realistischen oder fundamentalistischen Flügel, sondern nur noch als Summe individueller Interessen.
Wer sich zu Wort meldete, hatte einen Änderungsantrag eingebracht, durch den auch sein Hobby oder Beruf im Wahlprogramm Erwähnung finden sollte bis hin zur Professionalisierung der Bienenzucht. Was dann auch gleich durch gutwilliges Handaufheben anstandslos geschah. Änderungsanträge änderten das Programm nicht, sondern schmückten es aus.
Selbst die grünen Frauen, die letzte organisierte Tendenz in der Partei, sind still geworden. „Die Grünen stehen heute so geschlossen da wie noch nie in ihrer 20-jährigen Geschichte“, freute sich Fraktionssprecher François Bausch. Auch das chronische Misstrauen gegen die Parteiführung hat abgenommen, wofür sich diese mit der bleischweren Wahlversammlungsrhetorik der Altparteien bedankt.
„Bei Gréng geet et lass“ heißt es auf den neuen Wahlplakaten mit einer Verkehrsampel vor blauem Himmel. Doch das grüne Wahlprogramm ist bescheidener geworden. Auch weil „Wahlprogramme sowieso niemand liest“. Statt wie noch 1999 einen Wälzer vorzulegen, der Detailvorschläge für alles und jeden macht, besinnen sich die Grünen 2004 auf ihr Core buiseness. Das wären Umweltschutz und Transportpolitik, aber auch Frauenpolitik. Bei Meinungsumfragen trauen die Wähler ihnen lediglich auf diesen Gebieten Kompetenz zu.
Das Wahlprogramm bedient diese Erwartungen nicht ohne Technokratenfleiß, indem es Ökologie zu einer ziemlich unpolitischen Ingenieurwissenschaft macht, für die sich die Grünen spezialisierter fühlen als die anderen Parteien. Bildungspolitik schickt es noch mit, auch wenn die befragten Wähler trotz der zahlreichen grünen Studienräte und Kindergärtnerinnen da schon skeptischer sind. Doch seit die vom Parlament bestellte Wahlanalyse behauptet, dass die DP 1999 die Wahlen noch mehr mit dem Versprechen einer Bildungsoffensive als mit dem Frust der Staatsbeamten gewann, bleibt es den Versuch wert.
So verspricht das grüne Wahlprogramm eine Welt oder zumindest ein Großherzogtum, das überschaubarer, bedächtiger, sauberer und mittelständischer werden soll, eben biedermeierlicher, wie es sich für Vormärzzeiten gehört. Dass wichtige Positionen liberaler wurden, also weiter nach rechts gerückt sind, hängt auch mit den Schwierigkeiten ihrer praktischen Umsetzung zusammen.
Nach dem Ende der grünen Regierungsbeteiligungen in Belgien und Frankreich und den Schwierigkeiten der rot-grünen Koalition in Deutschland raten auch die rezenten Meinungsumfragen der ILReS eher zur Bescheidenheit. Die Hoffnungen auf eine Ampelkoalition sind weitgehend abgeschminkt, denn in Zeiten einer Konjunkturflaute sind die Wähler alles andere als experimentierfreudig. Der Abgeordnete Camille Gira tröstete am Sonntag die Mannschaft schon, „mit acht Abgeordneten in der Opposition ist besser als mit fünf in der Regierung“.
Hinzu kommt als harter Schlag für die Partei, dass die beiden Erstgewählten in den zwei größten Wahlbezirken nicht mehr kandidieren wollen. Robert Garcia war mit zur Hälfte persönlichen Stimmen Listenerster im Süden geworden, Renée Wagener mit noch mehr persönlichen Stimmen Listenerste im Zentrum. Garcia soll in den nächsten Wochen sein Parlamentsmandat aufgeben, damit die Sassenheimer Gemeinderätin Dagmar Reuter-Angelsberg ins Parlament nachrücken und sich bekannt machen kann. Wagener muss noch ausharren, damit der zum ehemaligen linken Flügel gezählte Jean Geisbusch nicht wieder nachrücken kann. Hoffnungsträger Henri Kox muss seine Stimmenzahl fast verdoppeln, um erstmals auch im Osten ein grünes Mandat zu erringen.
Das 99-er Wahlprogramm stand ganz unter dem Anspruch, dass Grün „für eine andere Wirtschaftspolitik“ stehe, wie das erste Kapitel aufwändig meldete. Diese großen Pläne sind bescheidener geworden. Die Wirtschaft soll vor allem auf umweltfreundliche Hightech für die Gewinner und Solidarwirtschaft für die Verlierer umorientiert werden, während die „Stärken und Schwächen des Wirtschaftsstandortes“ untersucht werden sollen.
Versprochen wird eine „aufkommensneutrale“ ökologische Steuerreform mit einer „Senkung der Belastung des Faktors Arbeit bei gleichzeitiger moderater Erhöhung der Energiebesteuerung“, um „die Energieeinsparung und -effizienz“ zu fördern. Ebenfalls von den deutschen Grünen der späten Achtzigerjahre übernommen wird der Vorschlag, die Rentenversicherung zusätzlich durch eine Bruttowertschöpfungssteuer für Betriebe und etwas Ökosteuer zu speisen. Genau wie die Regierung wollen die Grünen in der staatlichen Haushaltspolitik die Investitionsausgaben „Vorrang gegenüber den Konsumausgaben“ geben.
Die Grünen sind für eine nationale Krankenkasse mit einem einheitlichen Statut für Arbeiter und Angestellte. Sie „begünstigen“ weiter eine „generelle Arbeitszeitverkürzung“ –  die 1999 in Aussicht gestellte „Einführung der 35-Stunden-Woche mit vollem Lohnausgleich“ wird aber nicht mehr erwähnt.
Bei den „weichen“ Themen war die Partei schon immer liberal.  Sie bleibt für doppelte Staatsbürgerschaft, Sterbehilfe, Homosexuellenehe und die Legalisierung von Cannabis. Wenn sie dagegen als Sauberfrau gegen „Vetternwirtschaft, Ämterhäufung und finanzielle Unregelmäßigkeiten“ oder gegen die „schwarz-rot-blauen ‘Dysfonctionnements’“ wettert, erinnert der Ton schon an das ADR.
Théo Tibesart hatte am Sonntag als einziger Redner gemerkt, dass das Wahlprogramm der sich unter anderem auf die Tradition der Friedensbewegung berufenden Partei neuerdings sogar eine schnelle Eingreiftruppe der EU verspricht, aber streichen wollte nicht einmal er den Absatz. Zur beeindruckenden Aufrüstungspolitik der Regierung äußert sich das Programm bestenfalls indirekt. Und der „Spitzeldienst“, den das 99-er Wahlprogramm noch abzuschaffen versprach, soll nur noch reformiert werden.
War für das vorige Wahlprogramm die „schrittweise Reduzierung des Autoverkehrs“ noch „eine absolute Notwendigkeit“, so soll grüne Verkehrspolitik künftig nur noch „Wahlmöglichkeiten zwischen verschiedenen gleichberechtigten Verkehrsträgern“ schaffen. Strenge Lärmschutzauflagen und Kontrollen sollen das „Recht auf Ruhe“ gewährleisten. Schließlich ist sie auch erste Bürgerpflicht.

Romain Hilgert
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