ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Verhaltensstörungen

d'Lëtzebuerger Land vom 24.02.2023

Vor 14 Tagen brachte Premier Xavier Bettel einen Entwurf zur Reform des Wahlgesetzes ein. Erwachsene unter Vormundschaft sollen künftig wählen und kandidieren dürfen. Dazu ändert sich am 1. Juli auch der Verfassungsartikel über das Wahlrecht. Der Staat muss der 2011 ratifizierten Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen nachkommen.

Jährlich beantragen einige hundert Angehörige und Pflegeeinrichtungen eine Vormundschaft für Demente, Psychotiker, geistig Behinderte, Alkoholiker, Verhaltensgestörte... Als Verhaltensstörung gilt, sich der Geldwirtschaft und Lohnarbeit zu verweigern: „prodigalité, intempérance, oisiveté, vagabondage“ (Ministère de la Justice, Rapport d’activité 2021, S. 409).

Im 19. Jahrhundert waren neun von zehn Erwachsenen vom Wahlrecht ausgeschlossen. Weil sie zu arm waren, um genug Steuern zu zahlen. Zusätzlich schloss das Wahlgesetz von 1848 Personen aus, „welche wegen Attentats gegen die Sitten verurtheilt, und diejenigen, von welchen es bekannt ist, daß sie ein öffentliches Haus für Liederlichkeit und Unzucht halten“. Der Bürger ging gerne ins Bordell. Aber er ging dem Bordellbesitzer aus dem Weg.

Die Kritik am Zensuswahlrecht wuchs. 1879 wurde ein ganzer Katalog von Auszuschließenden ins Wahlgesetz geschrieben. Er war aus dem belgischen Wahlgesetz von 1878 übernommen. Er zielte auf alle, die nicht der bürgerlichen Geschäftsmoral gehorchten: Diebe, Preller, Bankrotteure, Zahlungsunfähige, Entmündigte und „diejenigen, welche aus einer öffentlichen Armenanstalt Unterstützungen erhalten“. 1884 kamen Komplizen und Hehler hinzu.

1919 erhielt die Arbeiterklasse das Wahlrecht. Der Katalog wurde noch einmal verlängert. Er wurde genutzt, um möglichst viele Arbeiter auszuschließen. Deren prekäre Lage manche mit dem Gesetz in Konflikt brachte. Die Frauen wurden wahlberechtigt. Nun wurden neben den Bordellbesitzern auch die „erwerbsmäßiger Unzucht sich hingebenden Personen“ ausgeschlossen. Und „die sequestrierten Geisteskranken“.

Die politische Macht verlagerte sich vom Parlament auf die Regierung. Unter Berufung auf die Europäische Union machte sich der Staat unabhängig von Wahlentscheidungen. 1989 konnte die Regierung zugeben: Der Katalog der von Wahlen Ausgeschlossenen war seit einem Jahrhundert länger, als die Verfassung erlaubte.

Der Katalog wurde auf drei Gruppen reduziert: verurteilte Verbrecher, Straftäter, denen ein Gericht das Wahlrecht aberkannte, volljährige Mündel. Über Letztere meinte der parlamentarische Berichterstatter Alex Bodry: „Et ass selbstverständlech, dass esou Leit och net kënne mat wiele goen“ (19.4.1989).

Doch Behinderte wollen selbstbestimmt leben. Die geplante Wahlrechtsreform verspricht, „de rendre la dignité aux personnes visées“. Zwecks leichterer Lesbarkeit bekommen sie die Parteilogos auf die Wahlzettel gedruckt.

Leitartikler behaupten, dass durch Wahlen die fähigsten Personen ermittelt werden, um die Staatsgeschäfte zu leiten. Soziologen meinen, dass bei Wahlen gesellschaftliche Klassen und Gruppen ihre unterschiedlichen Interessen anmelden.

Doch die leutseligen Députés-maires und Ministerinnen stellen keine intellektuelle Elite dar. Und die Kammer bestünde zur Hälfte aus Frauen, zu einem Viertel aus Arbeiterinnen und Arbeitern – wenn Frauen und Arbeiter ihresgleichen wählten.

Das Wahlrecht für erwachsene Mündel spiegelt ein bunteres Gesellschaftsbild, tolerantere Moralvorstellungen wider: Das große Vertrauen der besitzenden Klassen in die Resilienz der herrschenden Verhältnisse.

Der Parlamentarismus ist ausgedünnt. Er braucht nicht mehr auszuschließen. Außer die eingewanderte und pendelnde Arbeitskraft. Er soll integrieren, gesellschaftliche Konflikte enteignen. Er strebt keine Epistokratie an. Er verlangt von den Wählerinnen und Wählern nicht mehr den vollen Besitz ihrer geistigen Fähigkeiten.

Romain Hilgert
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