Psychiatriereform

Hilfe, die Zukunft kommt!

d'Lëtzebuerger Land du 01.07.2004

Nur wenige Stühle blieben leer, als die erst kürzlich gegründete Lëtzebuerger Gesellschaft fir Sozialpsychiatrie asbl am Dienstagabend zu einer Konferenz ins Bonneweger Kulturzentrum lud: Dort referierte unter anderem Professor Wolfgang Werner aus Merzig/Saar - über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt, weil er als letzter Direktor der Psychiatrischen Landesklinik des Saarlandes ab 1984 deren Auflösung einleitete. Seit Ende der 90-er Jahre ist auf diese Initiative hin die psychiatrische Versorgung im Saarland in sieben Regionen dezentralisiert. Es existiert ein Netz aus kleinen Akutstationen in Allgemeinkran-ken-häusern, Tagesstätten, betreuten Wohnungen, geschützten Arbeitsplätzen und Beratungszentren. Alle sieben Klinikstationen sind darüberhinaus "offen": eine geschlossene Unterbringung gibt es nur noch für straffällig Gewordene in einer separaten forensischen Einrichtung. Dieses Modell, das es derart flächendeckend zwar in keinem anderen deutschen Bundesland gibt, das sich aber anlehnt an die seit schon rund vier Jahrzehnten vollständig dezentralisierte Psychiatrie Italiens, sollte auch Luxemburg zum Vorbild dienen, meint die asbl. Hat doch schon vor zwölf Jahren die im Regierungsauftrag erstellte und nach dem Namen ihres Autors bekannt gewordene "Häfner-Studie" eine Dezentralisierung der Psychiatrie empfohlen sowie den Verbleib psychisch Kranker solange wie möglich in ihrem gewohnten Lebensumfeld. Und 1995 hatte der damalige sozialistische Gesundheitsminister Johny Lahure eine Kampagne "Für eine offene Psychiatrie im Jahr 2000" lanciert.

 

Der Termin dieser Veranstaltung war so unmittelbar vor der Bildung einer neuen Regierung nicht schlecht gewählt: der nächste Gesundheitsminister wird sich mit der "Psychiatriereform" befassen müssen, und das sogar schnell. In sechs Monaten wird der 2001 verabschiedete Spitalplan voll wirksam. Damit gelangt die Psychiatrie auch hier zu Lande an einen entscheidenden Wendepunkt.

 

Immerhin enthält der Spitalplan "Häfner"-Gedankengut. Es betrifft in erster Linie das Neuropsychiatrische Krankenhaus in Ettelbrück. Ab dem kommenden 1. Januar muss seine Bettenzahl von derzeit 318 auf 237 reduziert weden. Alle Akutbehandlungen fallen an die vier großen regionalen Krankenhäuser in Ettelbrück (Hôpital St Louis), Esch/ Alzette sowie das Centre hospitalier und das Kirchberger Krankenhaus in Luxemburg-Stadt. Jeweils 45 Akutbetten sind für diese Kliniken vorgesehen, davon je zwölf in "unités fermées". Denn in sechs Monaten wird das CHNP auch sein noch bestehendes Monopol für vom Psychiater verordnete Zwangseinweisungen verlieren. Nur straffällig Gewordene sollen dann auf untersuchungsrichterlichen Beschluss hin ins CHNP eingewiesen werden können. Für alle anderen Patienten wären zunächst die Akutkliniken zuständig, und nur falls dort entschieden würde, dass jemand einer längeren Betreuung bedarf, soll eine Überweisung ins CHNP erfolgen, das künftig eine nationale Rehabilitationsinstanz sein soll.

 

Damit stellt sich die Bestandsfrage. Man habe Zukunftskonzepte, sagt CHNP-Direktor Jean-Marie Spautz. Welche es sind, will er allerdings erst sagen, wenn der neue Gesundheitsminister sie gesehen haben wird. "Wenn ich heute etwas sage, das in ein paar Monaten nicht mehr wahr wäre - das wäre verantwortungslos gegenüber meiner Belegschaft." Die zählt derzeit über 600 Personen, verteilt auf den Klinikstandort Ettelbrück, die Therapiezentren für Drogen- bzw. Alkoholkranke in Manternach und Useldingen sowie die im Schrassiger Gefängnis betriebene Psychiatriestation. Ein Bettenabau um rund ein Virtel, wie im Spitalplan vorgesehen, hieße allerdings auch Abbau des medizinischen Personals in vergleichbarer Größenordnung. 

 

Zwar darf sich die Reduktion von Betten und Belegschaft über mehrere Jahre hinziehen und müss-te spätestens erst 2013 abgeschlos-sen sein. Denkbar ist jedoch, dass der Wegfall der Akutbehandlungen das CHNP weitere Patienten kosten könnte: Allein die Zahl der Zwangs-einweisungen ins CHNP beträgt derzeit noch rund 400 pro Jahr. Eine im EU-Vergleich überdurchschnittlich hohe Zahl, wie eine vergleichende Studie vor zwei Jahren ergab. Und nur ein Viertel davon sind etwa psychotisch Kranke, in rund der Hälfte aller Fälle wird übermäßiger Drogen- oder Alkoholkonsum diagnostiziert. "Dafür aber braucht man nicht unbedingt Zwangseinweisungen", sagt der Psychiater Chrétien Jacoby von der Ettelbrücker St Louis-Klinik, "es reicht oft schon, die Patienten ein bis zwei Tage unter Beobachtung zu halten und zu behandeln, und dann können sie wieder heimgehen." Nicht nur das Ettelbrücker Allgemeinkrankenhaus, sondern auch die anderen drei fordern eine Reform des geltenden Gesetzes über die Zwangs-einweisungen und eine Lockerung für leichte Fälle. Auch die Patientenrechte müssten gestärkt werden: Dass in Luxemburg, wie schon 1999 eine Untersuchung der Latin Association for the Analysis of Health Systems feststellte, "criteria like 'dangerousness towards others' and 'protection of public security' predominate over protection of the individual's health", wollen die vier Spitäler nicht als Stigma ins neue Zeitalter mitnehmen. Abgeändert werden muss das Gesetz ohnehin: Zurzeit darf ein Psychiater nur Zwangseinweisungen in eine Klinik verfügen, an die er nicht liiert ist. Was nicht mehr funktionieren kann, wenn der Dienst tuende Psychiater eines Akutkrankenhauses im Bereitschaftsdienst, wie ab 1. Januar vorgesehen, Patienten in dessen "unité fermée" einweisen soll.

 

Die große Frage, die sich stellt, ist die, welche "Rehabilitation" unter den neuen Bedingungen nötig sein wird. Zunächst für das CHNP: "Wir brauchen dafür die Unterstützung der Regierung. Sie muss uns das sagen", meint Jean-Marie Spautz. Noch noch vor zwei Jahren war aber das CHNP der Ansicht gewesen, zu wissen, wieviel und welche "Reha" Luxemburg benötigt. Vorgestellt wurde im Herbst 2002 das Konzept jenes Centre hospitalier de réhabilitation psychiatrique, das eine Ausgliederung von rund 100 Betten vom Standort Ettelbrück in ein nahe dem Hôpital Princesse Marie-Astrid in Niederkorn vorsah und vier Stationen zur Langzeittherapie von Alkohol- bzw. Drogenabhängigen, von psychotisch Kranken sowie eine psycho-geriatrische Station vorsah. Planungen dafür aber gibt es noch nicht; auch CHNP-intern ist umstritten, ob diese Struktur nicht zu groß, zu we-nig dezentral wäre und damit wiederum das Asyl-Stigma mit sich bringen würde, welches das CHNP so gern ablegen würde. Derzeit werde "alles überdacht", sagt Jean-Marie Spautz, eine Verkleinerung des Niederkorner Projekts um die Hälfte sei denkbar - und so hat das CHNP bis heute noch keinen Gebrauch gemacht von der Enveloppe zur Infrastrukturfinanzierung, die ihm in einer Höhe von 1,9 Milliarden Franken 1999 per Gesetz zuerkannt worden war. Auch, wie jenes Foyer médicalisé zur Reintegration psychisch Kranker aussehen könnte, das der Spitalplan vorsieht und das CHNP vor zwei Jahren am liebsten bei sich angesiedelt hätte, weil es 50 Betten enthalten soll, ist ungewiss.

 

Die Pläne vom Herbst 2002 waren allerdings die des CHNP allein gewesen. Eine Abstimmung mit den Akutkliniken dazu hatte es nicht gegeben. Die kam später: In der Öffentlichkeit war es still geworden um die Psychiatriereform, nachdem ihre beiden Hauptprotagonisten Johny Lahure und dessen Generaladministrator im Gesundheitsministerium Marcel Reimen Anfang 1998 über die "Dysfonctionnementer-Affäre" stürzten und sie im gesundheitspolitischen Abschnitt des CSV-DP-Koalitionsprogramms keine Erwähnung fand. Auf die Reha-Pläne des CHNP hin aber wurde un-ter Carlo Wagner die Diskussion im kleinen Kreis wieder aufgenommen, nachdem der Spitalplan unter Dach und Fach war. Seitdem diskutiert eine Arbeitsgruppe aus Vertretern des Gesundheitsministeriums und der fünf von den neuen Spitalplan-Regelungen zur Psychiatrie betroffenen Kliniken die "Implémentation Plan Häfner". Die Teilnehmer, unter ihnen der CHNP-Direktor, schließen nicht aus, dass die Dezentralisierung noch viel weiter getrieben werden müsse, als sie ab 1. Januar 2005 wirksam werden wird: Ein am 14. Juni der Commission permanente du secteur hospitalier vorgestelltes Exposée geht davon aus, dass Krisenzentren an den Akutkliniken zusätzlich dafür sorgen sollen, dass eine stationäre psychiatrische Behandlung nicht nötig wird, und Foyers médicalisés zur Reintegration müsste es nicht nur für chronisch Kranke am CHNP geben, sondern auch an den Akutspitälern.

 

Ein Katalysator für diese Ansätze ist das Psychiatriekonzept, das am neuen Kirchberger Krankenhaus verfolgt wird: "Bei uns", sagt der Psychiater Marc Graas, der unter anderem bei Professor Werner in Merzig gearbeitet hat, "gibt es eine halb-offene Psychiatrie." Das bedeutet: Starke Zusammenarbeit mit außerstationären Trägern, mit asbl, die geschützte Werkstätten und betreute Wohnungen und ambulante me-dizinische Betreuung leisten. Eine regelrechte "unité fermée" soll auf dem Kirchberg ebenfalls nicht eingerichtet werden - lediglich einzelne abschließbare Zimmer, falls tatsächlich Patienten zwangseingewiesen werden. Auch die jugendpsychiatrische Station auf dem Kirchberg, die erste ihrer Art in Luxemburg, verfolgt ein offenes Betreuungskonzept auch für Jugendliche, die nach dort aus den Isolationszellen der Heime in Schrassig und Dreiborn verlegt werden - unter Einbeziehung von Elternhaus, Schule, Jugendeinrichtungen.

 

Ansätze, die endlich auch die sozialpsychiatrisch und gemeindenah orientierten freien Träger stärker einbinden könnte in ein Psychiatriekonzept, das nach wie vor in erster Linie klinisch orientiert ist. Keiner der freien Träger wurde bisher in die jüngsten Überlegungen zur Psychiatriereform einbezogen. Dabei wächst ihre Rolle: Für geschützte Arbeitsplätze für psychisch Kranke in den Ateliers thérapeutiques in Walferdingen oder Schieren gibt es Wartelisten, die so umfangreich sind wie die Zahl der Betreuten. Dass die Plätze für betreutes Wohnen immer gefragter, aber auch immer knapper werden, stellt auch das Gesundheitsministerium fest. Und ambulant bzw. mit Hausbesuchen arbeitende asbl wie die Ligue luxembourgeoise d'hygiène mentale in Luxemburg-Stadt und das Réseau Psy - aktiv in Esch/Alzette sowie in Echternach und Grevenmacher - stellen fest, dass ihnen die Betreuung psychisch Kranker noch immer dadurch erschwert wird, dass es keine regelrechte Vernetzung mit den Krankenhäusern gibt: "Eine Klinik", sagt der Psychiater Erik Ceuster vom Réseau Psy, "könnte uns wenigstens mitteilen, dass ein von uns daheim Versorgter bei ihr auf Station aufgenommen wurde, bzw. wieder entlassen wurde. Das geschieht nicht immer." Abgesehen davon aber stelle sich die Personalfrage immer akuter: "Wir können leider nicht mehr jeden betreuen. Das übersteigt den uns durch die staatliche Konvention zuerkannten Personalschlüssel." 

 

Die politische Bedeutung einer Stärkung der freien Träger und ihre Vernetzung mit den Spitälern ist freilich eminent: Liefe sie doch nicht nur darauf hinaus, Einweisungen akut Erkrankter vorzubeugen, sondern auch die Rehabilitation chronisch Kranker stärker an ihr gewohntes Lebensumfeld zu knüpfen. Letzten Endes müsste sie das CHNP vor die "Abwicklungsfrage" stellen wie seinerzeit die Psychiatrische Landesklinik in Merzig. Damit jedoch wäre für das CHNP nicht einfach nur ein Personalabbau verbunden: Mehrheitlich verfügen seine Mitarbeiter über ein Staatsbeamtenstatut; die Umwandlung des Hôpital neuropsychiatrique de l'État in das nach privatem Recht geführte "établissement public" Centre hospitalier neuropsychiatrique liegt erst sechs Jahre zurück. 

 

Schon der Spitalplan aber wirft die Frage auf, welche Zukunft diese Mitarbeiter haben können. Und hatte Gesundheitsminister Wagner Ende 2002 in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage noch ge-meint, am CHNP im Zuge struktureller Reformen eventuell nicht mehr benötigtes Personal könne von anderen Kliniken mit psychiatrischen Stationen übernommen werden, will sich dem Vernehmen nach keines der vier Akutspitäler ohne Weiteres auf eine Belegschaft mit zweierlei Statut einlassen.

 

Peter Feist
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