Internationale Filmfestspiele von Berlin

Der Vorhang ist gefallen

d'Lëtzebuerger Land du 03.03.2023

Am Ende läuft der Abspann. Mit den Gewinnerinnen und Gewinnern, den Prämierten und Übersehenen, den Ausgezeichneten und denjenigen, die auf einen Kaffee vorbeischauten. Das Publikum reibt sich die Augen, gewöhnt sich an das gleißende Licht später Februartage, taumelt nach draußen, sortiert sich und findet sich schnell im Alltag wieder. Die Presse resümiert, rezensiert und stellt fest, dass auf den Internationalen Filmfestspielen von Berlin vor allen Dingen Streifen gezeigt werden, die nie und nimmer in Filmtheatern aufgeführt oder zu Publikumsmagneten werden. Und wenn, dann an einem heißen Sommersonntagnachmittag, wenn das Publikum stille Stunden am See der modrigen Muffigkeit eines Kinosaals den Vorzug gibt. Eine Auszeichnung der Berlinale mag dann vielleicht noch ein bisschen Aufmerksamkeit und Pressezeilen erzeugen, aber mehr auch nicht. Die Filmschau von Berlin entwickelt sich immer mehr zu einem Klassentreffen der Filmelite, die vom Ruhm vergangener Tage zehrt und sich an den eigenen Werken ergötzt. Während man die Zuschauerinnen und Betrachter an Streamingdienste im Serienrausch verloren gibt.

Es bleibt die Chronistenpflicht: Der Goldene Bär für den Besten Film der 73. Berlinale geht an den Franzosen Nicolas Philibert und seinen Film Sur l’Adamant. Die Jury zeichnete den Film, der von den Besucherinnen und Besuchern einer Pariser Anlaufstelle für psychisch kranke Menschen handelt, wegen seiner humanistischen Ebene aus. Er sei der kinematografische Beweis für die Notwendigkeit, sich ausdrücken zu können. „Are you crazy, or what?“, reagierte der französische Dokumentarfilmer lakonisch ungläubig auf die Auszeichnung. Jurypräsidentin Kristen Stewart hatte zu Beginn der Berlinale gesagt, dass sie raue und kantige Filme möge. Genauso ein Film ist Sur l’Adamant, der eintauchen lässt in die Schicksale der psychisch kranken Menschen, die er in den Blick nimmt, ihre Perspektiven spiegelt und so Zugang zu ihrer Welt schafft. Das passt zum politischen Anspruch der Berlinale. Mehr als ein Nischendasein in den Programmkinos wird man dem Film, sollte er hier in die Kinos kommen, trotz Goldenem Bären nicht prophezeien können. Ähnlich ging es auch schon Adina Pintilies Film Touch Me Not – ein halbdokumentarischer Film, der 2018 den Goldenen Bären gewann – und Gianfranco Rosis Dokumentarfilm Seefeuer, der 2016 als Bester Film ausgezeichnet wurde. Die Auszeichnung des französischen Films wirkte ein wenig wie eine Verlegenheitslösung, weil man niemand anderen bevorzugen wollte. Oder der einfachste Kompromiss in einem lauen Wettbewerb.

Als weitere Auszeichnung ging der Große Preis der Jury an Christian Petzolds Roter Himmel, der zweite Teil seiner Liebes-Trilogie. Auftakt war vor drei Jahren das Werk Undine, in dem Paula Beer damals den Silbernen Bären für die Beste Schauspielerische Leistung in einer Hauptrolle erhielt. Überhaupt ist Petzold gern prämierter Gast in Berlin. Schon 2012 für bekam er für Barbara den Silbernen Bären für die Beste Regie. Sein neuer Film, der mit Abstand stärkste der fünf deutschen Beiträge, erzählt vom Miteinander von vier jungen Menschen an der Ostsee, während im Hinterland die Wälder brennen. Ein hochaktueller wie unterhaltsamer Film. Der Silberne Bär „Preis der Jury“ ging an João Canijo für seinen magischen Film Mal Viver. Darin erkundet der Portugiese in betörenden Bildern die verletzten Seelen von fünf Frauen, die ein Familienhotel betreiben. In der Berlinale Sektion Encouters lief parallel das Spiegelstück Viver Mal, ein Film, der die Hotelgäste in den Blick nimmt und dieses Doppelprojekt zu einem Meisterwerk des zeitgenössischen Kinos macht. Der Silberne Bär für die Beste Regie ging an Philippe Garrel für seinen Film Le Grand Chariot, ein ebenso bewegter wie bewegender Film über eine Puppenspielerfamilie, die die Tradition der Familie erkundet. Es geht um Liebe, Familie, Freundschaft, Vaterschaft und natürlich um die Kunst. Garrel widmete den Bären dem großen Meister Jean-Luc Godard, der in Berlin in den 1960-er-Jahren für Alphaville ausgezeichnet wurde.

Mutig erwies sich die Jury bei der Auswahl für die beste schauspielerische Leistung. Prämiert wurde die achtjährige Sofía Otero. Sie spielt in dem Film 20.000 especies de abejas der baskischen Regisseurin Estibaliz Urresola Solaguren in beeindruckender Selbstverständlichkeit einen gleichaltrigen Jungen, der sich und seine Identität sucht. Damit ist ein Silberner Bär erstmals an ein Kind gegangen. Selten sehe man so viele Emotionen und zugleich erschütternde Einsamkeit, kommentierte Jurymitglied Francine Maisler die Auszeichnung. Der weitere Weg Oteros wird zeigen, ob der Preis eine Auszeichnung ist oder zur Bürde wurde. Gänzlich vergessen hat die Berlinale das Schicksal des bosnischen Schrottsammlers und Laienschauspielers Nazif Mujic, der vor zehn Jahren in Berlin als Bester Darsteller prämiert wurde. Er spielte sich seinerzeit in dem Film Aus dem Leben eines Schrottsammlers selbst. Im Herbst des gleichen Jahres kehrte er als Asylbewerber nach Deutschland zurück, wurde als Wirtschaftsflüchtling eingestuft und seine verfügte Abschiebung unter Duldung zunächst ausgesetzt. Im Sommer 2014 kehrte er nach Bosnien zurück. Drei Jahre später verkaufte er seinen Silbernen Bären, um seine Familie ernähren und Schulden abbezahlen zu können. Im Januar 2018 versuchte er erneut in Deutschland eine Lösung für die prekäre Situation seiner Familie zu finden. Er verstarb in Bosnien während der Berlinale 2018.

Der Silberne Bär für die Beste Schauspielerische Leistung in einer Nebenrolle wurde Thea Ehre für ihre Performanz in Christoph Hochhäuslers Film Bis ans Ende der Nacht ausgezeichnet. Die Authentizität, Reinheit und Schönheit habe die Jury „umgehauen“, sagte Jurypräsidentin Kristen Stewart. Ehre spielt eine transidentische Frau, die den verdeckten Ermittler Robert (Timocin Ziegler) zu einem Kriminellen führen soll. Damit das Klassentreffen Berlinale perfekt wurde, erhielt Angela Schanelec den Silbernen Bären für das beste Drehbuch für ihre Vorlage zu Music, eine freie Adaption des Ödipus-Mythos, die in ihrer anspielungsreichen Lückenhaftigkeit keine leichte Kost oder schlichtweg ein unverständlicher Film ist. Schanelec gewann bereits 2019 für ihren sperrigen Film Ich war zuhause, aber … mit Maren Eggert in der Hauptrolle den Silbernen Bären für die Beste Regie. Die luxemburgische Koproduktion Ingeborg Bachmann – Reise in die Wüste von Margarethe von Trotta ging gänzlich leer aus.

Es bleibt abzuwarten, ob von der diesjährigen Ausgabe der Berlinale große künstlerische Impulse ausgehen oder Filme in Erinnerung bleiben werden. Jedoch zeigen sich zwei Tendenzen, die den Weg der Berlinale in die zweite Liga der Filmfestspiele ebnet: Publikumsfilme überlässt man den Festivals von Cannes oder Venedig sowie das hohe Ausmaß an wiederholenden Auszeichnungen stets wiederkehrender Teilnehmender.

Martin Theobald
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