Seit über einem Jahr lähmt die Pandemie Spanien in weiten Teilen. Insbesondere die wichtige und personalintensive Tourismusbranche lag lange brach. Dabei hatte sich die Wirtschaft noch immer nicht vollständig von der Finanzkrise von 2007/08 erholt. Zumindest die Europäische Union hat nun ein Rekordaufbauprogramm zugesagt.
Seit Wochen herrscht bereits bestes Sommerwetter, die strenge Maskenpflicht überall im Freien ist vor wenigen Tagen gefallen, für die Schüler haben die drei Monate langen Sommerferien soeben begonnen und so langsam erwacht Spanien aus einem langen Winterschlaf. Es ist kein schönes Erwachen.
Vor rund 15 Monaten, am Anfang eines rigorosen Lockdowns, waren zahlreiche Bürger besorgt über die wirtschaftlichen Konsequenzen. Diese Sorge wurde bald von dramatischen Berichten aus den Krankenhäusern und Pflegeheimen verdrängt. Die erste Koalitionsregierung in der noch relativ jungen spanischen Demokratie mit den Sozialdemokraten von Premier Pedro Sánchez und den linken Podemos federte mit Erte genannten Lohnfortzahlungen und -beihilfen über mittlerweile mehr als 17 Milliarden Euro die wirtschaftlichen Konsequenzen für die meisten ab und verhinderte eine Entlassungswelle. Aber als viertgrößte Wirtschaftskraft Europas litt Spanien auch vor der Pandemie noch an den Folgen der weltweiten Finanzkrise von 2008 und zusätzlich schmierte das Bruttoinlandsprodukt Spaniens 2020 um rekordverdächtige 10,8 Prozent ab.
Auch deshalb ist der von der europäischen Kommission letzte Woche gebilligte Aufbau- und Resilienzplan über gewaltige 69,5 Milliarden Euro für Spanien essentiell. „Wir können es uns nicht leisten, die nächsten sieben Jahre Däumchen zu drehen. Entweder schaffen wir jetzt einen gewaltigen Wandel, oder wir scheitern langfristig an einer Strukturreform“, verlautet es aus Regierungskreisen. Der Reformbedarf ist gewaltig: Sowohl der unter einer für die EU weiter sehr hohen Arbeitslosigkeit von 16 Prozent im aktuellen Trimester leidende Arbeitsmarkt und das Rentensystem sollen bis zum Ende des Jahres komplett überarbeitet werden und auch soll endlich wieder investiert werden. Keine andere größere Nation habe einen vergleichbaren Rückgang an Investitionen gekannt, heißt es aus den gleichen Quellen.
„Es ergibt völligen Sinn, den Investitionsschock auf die ersten drei Jahre zu konzentrieren“, rechtfertigt die Regierung ihren Plan, 80 Prozent oder 54 Milliarden Euro in der ersten Hälfte des von 2021 bis 2026 laufenden Plans Next Generation EU auszugeben. Im Gegensatz zu etwa Italien oder Frankreich stehen Spanien nämlich zusätzliche 38 Milliarden Euro Unterstützung von 2021 bis 2027 aus dem europäischen Strukturfonds zu, die den wirtschaftlichen Motor auch noch nach dieser ersten Welle stützen sollen. In Luxemburg meinte die spanische Vizepräsidentin und Wirtschaftsministerin Nadia Calviño jedenfalls vergangenen Donnerstag vor der Eurogruppe: „Dieser Wiederaufbauplan hat eine Dimension, die über das Nationale hinausgeht. Wir hoffen alle, dass Spanien in den nächsten Jahren ein Motor des wirtschaftlichen Wachstums in Europa sein wird.“
Diese Hoffnungen werden allerdings von der innenpolitischen Realität Spaniens getrübt. Die Minderheitsregierung ist auf Stimmen der baskischen und katalanischen Regionalparteien angewiesen und das rechte Lager fährt einen unerbittlichen Oppositionskurs. Monatelang schürten die konservative Partido Popular und die liberalen Ciudadanos im Land Ängste, dass die Wirtschaftshilfe in Gefahr sei wegen dem pandemiebedingten Ausnahmezustand, fehlenden Kontrollmechanismen, generell schlechter Regierungsführung oder sogar der geplanten Reform des Justizapparates. Selbst innerhalb der EU-Institutionen erschwerten zahlreiche Interventionen die Unterstützung, wie noch knapp zwei Wochen der Sprecher von Ciudadanos Luis Garicano in einer kaum verkleideten Bitte um „Transparenz“ und „Reform des Aufbauplans“ im Europaparlament, damit es „keine verpasste Gelegenheit“ werde.
Vergangenen Mittwoch sah sich so selbst Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Madrid genötigt, an den spanischen Zusammenhalt zu appellieren, da nur mit weitreichendem Konsens unter den Sozialpartnern, aber auch der Politik der Wiederaufbau nachhaltig sein könne. Die Realität sieht leider nicht danach aus. Seit Monaten blockiert die PP unter anderem eine Reform des Consejo General del Poder Judicial, der ihr bisher große politische Einflussnahme auf die Besetzung der höchsten Gerichte sichert (die weiterhin massive Korruptionsfälle bis in die Parteispitze verhandeln). Was die europäische Kommission seit Jahren kritisiert. Und gerade an der Katalonienfrage zeigt sich, wie fragil die spanische Einheit ist.
Wochenlang beherrschte die geplante Begnadigung von neun Befürwortern der katalanischen Unabhängigkeit die Medien. Wegen des illegalen Referendums vom 1. Oktober 2017 waren Regionalpolitiker zu Haftstrafen zwischen neun und 13 Jahren verurteilt worden und sämtliche konservativen Meinungsführer wie der Madrider Bürgermeister José Luis Martínez-Almeida sprachen von nicht weniger als „Niederträchtigkeit an Spanien und Schlag gegen die Demokratie“. In einer Rede in Barcelona mit dem Titel Wiederbegegnung: Ein Zukunftsprojekt für ganz Spanien, rechtfertigt Pedro Sánchez die Begnadigung mit einem dringend nötigen Dialog statt den Konfrontationen unter den konservativen Vorgängerregierungen: „Damit holen wir neun Menschen aus dem Gefängnis, aber wir werden Millionen für das Zusammenleben gewinnen.“ Doch eine Woche vorher hatten in Madrid noch Zehntausende gegen diese Begnadigung protestiert. Und auch die regierenden katalanischen Unabhängigkeitsparteien begehren auf, da sie eine Annullierung der Richtersprüche und eine Generalamnestie der Tausenden Helfer jenes Referendums fordern. Auf deren Unterstützung ist Pedro Sánchez jedoch zwingend angewiesen.
Beispielhaft für große Teile der Bevölkerung zeigt sich ein von der Pandemie besonders getroffener, befreundeter Gastronom von den politischen Streitereien resigniert: „Die Politiker schauen doch alle nur nach sich. Um uns geht es doch nie, höchstens um unsere Stimmen.“ Dass die Realität der im Zeichen eines ökologischen und digitalen Wandels verkauften EU-Hilfe in Spanien mit den frommen Wünschen dabei kaum Schritt hält, hatten zahlreiche Umweltbewegungen bereits in der Vorwoche aufgezeigt: Trotz heftiger Proteste und gegen den Willen Barcelonas hat die Regionalregierung den Ausbau des dortigen Flughafens bis in das geschützte Mündungsgebiet des Flusses Llobregat hinein genehmigt. Obwohl 40 Prozent der Hilfen des Aufbauplans für Klimaziele vorgesehen sind, werden wahrscheinlich auch EU-Gelder in diesen Ausbau fließen. Und in ihrem Klimaschutzgesetz hat sich Spanien vor kurzem für eben mal 23 Prozent, also nicht mal die Hälfte der auf EU-Ebene vorgesehenen Reduktion an Treibhausgasen bis 2030 verpflichtet.