Das Ziel ist hier meist eine Dienstleistung

Heimatkunde

d'Lëtzebuerger Land vom 08.05.2015

Es ist ein interessantes Land, es wird immer interessanter. Und immer verwirrender, wie alles Interessante. Niemand kann ganz genau sagen, was das für ein Land ist. Nur dass es klein ist, darüber herrscht allgemeiner Konsens.

Menschen, die sich hin und wieder verabschieden, über geräumigere Zeiträume, reiben sich die Augen, wenn sie wieder die Kulisse betreten, in der es ganz schön wimmelt. Menschen in den Uniformen der gehobenen Erwerbswelt – eben sah man sie noch aufgereiht hinter Bildschirmen hinter Glasfronten – bewegen sich zackzack zielstrebig. Sie scheinen zu wissen, worum es geht und wohin. Lebewesen in Autos steuern auf Staus zu, in denen sie gefasst große Lebensabschnitte verbringen.

War es nicht erst gestern, dass im Heimatkundeheft in Schönschrift stand, das Land habe 360 000 Einwohner?

So viele Menschensorten leben in der Stadt, ohne einander zu massakrieren. In einem Land, in dem Sterbenskranke sogar sterben dürfen.

Zahlen, Statistiken, immer neue Veröffentlichungen, von meist ausländischen Experten, die den Menschen, die in diesem Land leben, ihr Land erklären sollen. Den Neuen und den Alten, sogar Stein- oder Festungsalten. Weil sie es noch nicht oder nicht mehr verstehen. Weil sie rätseln, wo sie sich gerade befinden, mit wem, und was wer ihnen gerade mitteilt, in welcher Sprache.

In der Stadt reden alle artig französisch miteinander, die Aborigenees auch mit den Aborigenees, alles andere führt selten zum Ziel, das meist eine Dienstleistung ist. Die Aborigenees rächen sich dann in den Foren, weil sie ihre bodenständige Zunge so strapazieren müssen. Sie spielen sich masochistisch Lieder vor, in denen ihr tägliches Leiden beim Brötchenholen thematisiert wird, beklagen das Schicksal ihrer Greise, die vor dem docteur schlottern, der so anders redet. Einige dieser Invasor_innen, ohne die sie bedauerlicherweise nicht leben können, irgendwer muss den ganzen Kram ja machen, die so genannte Arbeit, haben sogar eine Hautfarbe, die nicht beigerosa ist. Sie, huch!, o mein Gott!, beten vielleicht sogar. Aber irgendwer, die Luxemburgerin war immer schon ein pragmatisches Geschöpf und nimmt vieles in Kauf, wenn es der Kaufkraft dient, muss ja schaufeln, schieben, schuften, irgendwer muss ja die Brötchen backen und die Busse fahren.

Irgendwer muss ja denken und eine Expertin sein. Sie kommen aber leider nicht nur zu Dienstleistungszwecken wie die guten Feen oder Heinzelmännchen, um anschließend im Sternstaub oder einer Mauerritze zu verschwinden. Nein, sie verstopfen die Straßen mit sich selber, manche bleiben einfach da, sind jetzt auch hier, von hier. Während die armen Aborigenees über den Tellerrand krabbeln, um bei den Heckenfranzosen oder den Preisen mit den niedrigen Preisen unterzukommen. Und alles ist immer gestaut, weil das Land sich selbst nicht mehr verdaut.

Kein Wunder, dass manche statt eines vor Ideen strotzenden Triumvirats wieder ein stabiles Matriarchat herbeisehnen, Melusina, die Muttergottes, unsere gute Großherzogin. Marienkalender, Zopp an Ziessen, einmal im Jahr Rüdesheim mit „Garten und Heim“. Nachbarin Ketti bringt gleich gesegnetes Wasser von Lourdes. Und Hostien kann man im Laden kaufen, vier um einen Franken. Das war doch was anderes als die Zustände jetzt.

Wo sich die Intelligentsija zusammenrottet, 43 an der Zahl nach der letzten Intellek-tuellenzählung: Wollen die etwa den gemeinen, kleinen Mann und die gemeine, kleine Frau ausrotten? Das Volk? Ihr Volk? Ihresgleichen? Die, die die gleichen traumatisierenden Erfahrungen wie sie durchleben mussten, Bohnenschlürf verdrücken, Kuhmägen, zum Nachtisch zwanzig Gegrüßtezeistemaria. So was schweißt natürlich zusammen, so entsteht Identität, das geht nicht weg, nie.

Das reicht den 43 Intellektuellen aber nicht. Sie wollen mehr, viel mehr, alles. Ein Utopolis, ein globales Mini-Labor, in dem es kreativ gärt, mindestens.

Menschenkinder, die von Nationalitäten und Banalitäten befreit zu Urnen tanzen, um (über) ihr Geschick zu bestimmen. Gibt es einen schöneren Traum? Wohl kaum.

Michèle Thoma
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