Fred Neuen

Antichambre

d'Lëtzebuerger Land vom 10.09.2009

Die Erwachsenenversion eines Kinderzimmers – das ist der erste Eindruck beim Betreten von Fred Neuens Wohnzimmer. Viel Spielzeug. Eine weißrote Modellrakete, Plastikfiguren, eine Daddelstation. Überall Superheldengedöns und das verpixelte Flair alter Videospiele. Ganz schön nostalgisch, eigentlich. Disneyfilme, schicke Designerleuchte, DVD-Stapel. Alles sehr ordentlich und aufgeräumt; da liegt kein arglos hingeworfener Krempel in den Ecken; alles hat seinen Platz. Wie gesagt: die Erwachsenenversion.

Neben dem Beamer – man darf annehmen: zusammen mit der gro­ßen Leinwand dem wichtigsten Objekt in diesem Raum – liegt ein Comic, ein Photoband von Li Wei und ein penetrant rosa glänzendes Heft mit der Aufschrift „Playboy“. Anordnung und Auswahl scheinen ein wenig zu zufällig, um wirklich zufällig zu sein. Demonstriert da jemand Bandbreite? Als ich auf Umberto Ecos Geschichte der Hässlichkeit aufmerksam werde, die auf dem Beistelltisch neben dem Sofa liegt (natürlich so, dass ich sie unmöglich übersehen kann), dämmert mir so langsam das Balzac’sche Ausmaß dieser Inneneinrichtung. Dieser Raum ist nicht einfach ein Wohnzimmer, sondern eine sorgsam durchdachte Selbstinszenierung. Man sieht hier das, was man sehen soll.

Eigentlich wollte ich Fred Neuen vor allem zu seinem aktuellen Projekt befragen. Seit über einem Jahr (das macht ungefähr fünfzig Episoden), produziert und moderiert er zusammen mit Max Hochmuth die Internetsendung Eveant, die sich völlig jenseits des nicht totzukriegenden, aber „einfach unwahren“ (dixit F.N.) Vorurteils situiert, dass in Luxemburg notorisch nichts los sei. Das Konzept der Sendung, die sich vornehmlich an das zunehmend weniger junge Publikum des Web 2.0 richtet, verbindet thematischen Anspruch und Humor zu einer sehr unelitären Berichterstattung über das luxemburgische Kulturgeschehen, wobei „Kultur“ bedeutet: Zwar Theater, Kunstausstellungen, Konzerte, aber ebenso Nachtleben, Gala Tour de France, Zoo und Beerpong. Dass das Duo Neuen/Hochmuth dabei nicht nur kommentierend zuschaut, sondern so ziemlich jeden Blödsinn selbst mitmacht, scheint so eine Art Ehrensache zu sein.

Obwohl die Arbeit an den etwa viertelstündigen Episoden zur Zeit seine Hauptbeschäftigung darstellt, führt Fred Neuen sie ganz hinten in der „Selected Filmography“ auf, die er mir vor unserem Gespräch zugeschickt hat. Ganz oben auf der zweiseitigen Liste, auch noch vor „Documentary“, „Advertising“ und „Music Videos“, steht die Rubrik „Fiction“, unter der eine Handvoll Kurzfilme aufgelistet sind –, unter anderem Vault, der letztes Jahr im Vorprogramm von Saw V zu sehen war. Während mein Gastgeber im Hintergrund auf der Tastatur seines Laptops klappert, um die neue Folge von Eveant ins Netz zu stellen, sehe ich mir auf der Wohnzimmerleinwand Trinity an, einen Film von 2005, der Vault denkbar unähnlich ist. Mit Dämonen, Exorzismen und Verfolgungsjagden durch dunkle Katakomben hat dieser Film allerdings überhaupt nichts zu tun. In Trinity erzählt Fred Neuen eine einfühlsame Geschichte über Verlustangst und Kommunikations­prob­leme, über die Schwierigkeit, zwischenmenschliche Abgründe zu überwinden, loszulassen, zueinander zu finden. Wie passt das zusammen? Sind das Fingerübungen, ein Herantasten an ein größeres Projekt in Spielfilmlänge? 

Offenbar schon. Zumindest angedacht sei ein solches Projekt, sagt Fred, aber inhaltlich wolle er sich zu so einem frühen Zeitpunkt nicht dazu äußern. Dann frage ich eben anders (begin at the beginning) und will wissen, wie er überhaupt zum Film gekommen sei. Da muss er nicht lange nachdenken. Seit ihm mit acht oder neun Jahren aufgegangen sei, dass Filme ja gemacht würden, habe er gewusst, dass das seine Sache sei. So früh? Und Alternativen –, sagen wir: Polizist, Arzt, Feuerwehrmann? „Mit vier wollte ich Missionar werden“, behauptet er. Ah ja. „Allerdings der Missionar aus Tintin au Congo. Ein Missionar mit Gewehr – das fand ich gut.“

Fred erzählt außerdem, wie er als Grundschulklässler anhand von Film­plakaten Plots gesponnen hat, um vor Freunden so tun zu können, als hätte er die betreffenden Filme tatsächlich gesehen. Und nachträglich fällt ihm ein, dass er ersatzweise vielleicht auch Designer von Videospielen hätte werden wollen. 

Ich bin mir nicht sicher, wie sehr er mich damit verschaukeln will, aber im Fortgang des Gesprächs wird mir klar, dass Fred mit diesen Geschichten implizit angefangen hat, seine Arbeitsweise zu erläutern. Da wäre zum einen die Ineinanderblendung verschiedener Wirklichkeits­ebenen, von Realität und Fiktion. Zum anderen wird er auf die ausdrückliche Frage, wie seine Filme entstehen, entgegnen: „Ausgangspunkt ist immer ein Bild, ein visueller Impuls.“ Damit daraus ein Film wird, den er als Zuschauer sehen wollte, muss sich das emotional Ansprechende dieses Impulses auf den Film übertragen. Für ihn seien Filmemacher „Emotionsdealer“, meint er scherzhaft. Reine Kunstübungen sind Fred Neuen jedenfalls suspekt. 

Er wettert gegen Oliver Stone und Tarantino post-Pulp Fiction, gegen „prätentiöse“, das heißt „menschlich kalte“ Filme. Begeistert hingegen ist er von Sam Raimi, Hayao Miyazaki und Takeshi Kitano. (Dass er Richard Kelly und insbesondere Donnie Darko erwähnt, während einem sein handzahmes Kaninchen um die Füße hoppelt, ist eine köstliche Fügung des Schicksals.) Die Filmvorlieben aus der Kindheit wirken natürlich auch nach: Abenteuerfilme – Sindbad und Lawrence of Arabia –, selbstverständlich Spielberg. Stünden ihm unbegrenzte Mittel zur Verfügung, flachst Fred, würde er „definitiv“ eine Saga drehen, Ken Follett oder etwas in der Art.

Je länger und ernster Fred jedoch über seine Arbeit spricht, desto mehr nimmt er sich selbst zurück. Man müsse seine Grenzen kennen, wenn man einen Film mache, betont er immer wieder, und dürfe nicht vergessen, dass ein Film nicht einfach das Werk eines Regisseurs sei, sondern das eines Kollektivs. Der Regisseur sei nur derjenige in diesem Kollektiv, der das Projekt am besten kenne, der sich aber keinesfalls an seine Ausgangsidee klammern dürfe, sondern flexibel bleiben müsse für Kritik und neue Ideen. 

Vielleicht sind es diese selbstkritischen Zwischentöne, die mich beim Hinausgehen stutzen lassen. Habe ich beim Eintreten überhaupt einen von den Filmen oder eines von den Büchern gesehen, über die wir gesprochen haben? Während er mich zum Eingang begleitet, erwähnt Fred in einem Nebensatz seine „Bibliothek“ und macht eine Handbewegung in die Richtung von Türen, die verschlossen geblieben sind. 

Elisabeth Schmit
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