ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Der Verbrecher produziert

d'Lëtzebuerger Land vom 02.07.2021

Wozu eine Regierungskoalition ohne Beteiligung der CSV führen muss, wusste das Luxemburger Wort schon vor einem halben Jahrhundert. Dazu, dass „ein ‚Jugendlicher‘ kurz vor Beginn einer Messe das Tabernakel schändete und den Priester ohrfeigte“. Und dazu, dass „Jugendliche vor kurzem hierzulande eine neu restaurierte Kirche als Radpiste, Abort und Rauschgifthöhle benutzten und dafür nicht belangt wurden“. Dieser mit „N.“ unterzeichnete Beitrag trug den Titel: „Herr Justizminister, wir haben Angst!“ (12.8.1976). Er war Teil einer Hetzkampagne von CSV und Wort. Sie machten die DP/LSAP-Regierung verantwortlich für „[u]nunterbrochene Serien von Einbrüchen, großangelegte Diebstähle wertvoller Kunstgegenstände, Ausbrüche von Schwerverbrechern“.

Heute regiert wieder eine Koalition ohne Beteiligung der CSV. Die Christlich-Sozialen klagen erneut über eine „Besorgnis erregende Sicherheitslage“ unter einer DP/LSAP-Regierung, diesmal plus Grüne. „Steigende Gewaltbereitschaft, Drogendelikte, Prostitution und organisierte Bettelei“ zählen sie in einer Presseerklärung auf (9.6.2021). Sie vergessen zu erwähnen, dass sie sogar Strafanzeige gegen die Kriminalität in den eigenen Reihen erstatten mussten. Gnadenlos ist „Kriminalitätsbekämpfung amplaz Kuschelpolitik“.

Der CSV geht es anhaltend schlecht. Nun erinnerte sie sich: Wenn nichts mehr geht, gehen immer noch Law and Order. Diese Bauernregel hat sich über Generationen vererbt. Der CSV-Fraktion der Siebzigerjahre gehörten Michel Wolters Vater Jean, Laurent Mosars Vater Nic und Marc Spautzens Vater Jean an. Das Geschäft mit der Angst ist ein Familienunternehmen.

Eine CSV-Abgeordnete kann noch aus eigener Erfahrung schöpfen: Als junge Wort-Redakteurin hatte Viviane Reding 1978 besonders laut mit der Meute geheult. Ein Jahr später saß sie im Parlament. Nur wenige Monate zu spät, um bei der Abschaffung der Todesstrafe ihre Zustimmung zu verweigern wie Pierre Werner, die Väter Mosar, Spautz, Wolter, Margue und Astrid Lulling.

Die CSV will die grüne Justizministerin Sam Tanson und den grünen Polizeiminister Henri Kox vor sich hertreiben. Je näher die Wahlen rücken werden, um so einfacher lassen die Grünen sich treiben. Sie haben es mit dem Staatsbürgerschafts- und dem Burkagesetz bewiesen.

Die CSV weiß den rechten Flügel der DP mit Bürgermeisterin Lydie Polfer ihre Komplizen. Auf ihrer Internetseite verspricht die Stadt Luxemburg ausländischem Kapital zehn Standortvorteile. Einer ist der „[t]aux de sécurité très élevé“. Die DP-Rechten sind nicht um die Sicherheit besorgt. Sie sehnen sich bloß nach einer Koalition ohne rote Gewerkschafter und grüne Radfahrer.

Zu Beginn der neuen Law and Order-Kampagne vor drei Wochen betonte der Abgeordnete und Stadtschöffe Laurent Mosar: „Hei handelt et sech, an dat soll een och emol eng Kéier klipp a kloer soen, jo ëm auslännesch Stroftäter.“ Die CSV möchte mehr Polizisten, um ihre Wähler vor der kriminellen Armut der Welt zu schützen. Für den kriminellen Reichtum der Welt will sie mehr Geschäftsanwälte.

Denn Luxemburg ist „a great place to do business“. Das hört der Verbrecher gern. „Der Verbrecher produziert nicht nur Verbrechen, sondern auch das Kriminalrecht [...]. Der Verbrecher produziert ferner die ganze Polizei- und Kriminaljustiz, Schergen, Henker, Richter, Geschworene usw.“, schreibt Karl Marx. „Der Verbrecher produziert einen Eindruck, teils moralisch, teils tragisch, je nachdem, und leistet so der Bewegung der moralischen und ästhetischen Gefühle des Publikums einen ‚Dienst‘“ (Theorien über den Mehrwert I., S. 385).

Den Dienst des Verbrechers zur Bewegung der moralischen Gefühle des Publikums nach rechts macht die CSV schamlos zu ihrem eigenen. Denn der Verbrecher produziert nicht nur Verbrechen. Er produziert auch die Sicherheitspolitik und die Sicherheitspolitiker. Der Verbrecher produziert auch die Mosar, Gloden und Roth.

Romain Hilgert
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