LEITARTIKEL

Macrons Europa

d'Lëtzebuerger Land vom 13.05.2022

Natürlich war auch Wahlkampf (zur französischen Legislative), als Emmanuel Macron am Montag im Europaparlament zur „Konferenz zur Zukunft von Europa“ sprach. Denn wie der vor kurzem wiedergewählte französische Präsident sich auszudrücken beliebt, bedeute „ein unabhängigeres Frankreich ein stärkeres Europa“.

Manche Europaabgeordnete, wie etwa der Luxemburger Marc Angel, fanden es „deplatziert“, dass Macron in Straßburg sinngemäß auf eine Idee zurückkam, die François Mitterand 1990 hatte. Wollte dieser nach dem Fall der Berliner Mauer eine „Confédération européenne“ schaffen, die mittel- und osteuropäischen Ländern einen Warteraum bieten sollte, um sie nicht gleich in die damalige Europäische Gemeinschaft aufnehmen zu müssen, zielt Macrons „Communauté politique européenne“ in eine ähnliche Richtung: Staaten wie die Ukraine, Georgien und Moldawien, aber auch die Westbalkanländer würden über diese „Schleuse“ Zugang zur EU erhalten. Bis dahin böte sich ihnen die Möglichkeit zur vertieften Zusammenarbeit mit der EU.

Dass „Vertiefung“ vor „Erweiterung“ gehen sollte, ist seit jeher die französische Position. Die EG, später die EU, sollte ein politisch und wirtschaftlich möglichst homogener Staatenbund sein, der fähig wäre, eine weltpolitische Rolle zu spielen. Gerne unter der Führung Frankreichs. Doch während es vor 30 Jahren zum großen Teil auch darum ging, die wirtschaftlichen Kosten für den Übergang neuer Mitgliedstaaten auf westeuopäischen Stand zu begrenzen, trug Emmanuel Macron seine Idee mitten im Ukraine-Krieg vor. Das hat natürlich etwas zu bedeuten.

Denn womöglich liegt ein EU-Beitritt der Ukraine in gar nicht so weiter Ferne. Auf die Video-Ansprache des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij an die Staats- und Regierungschefs der EU mit dem Wunsch nach einem schnellen Beitritt hin, reiste Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am 8. April nach Kiew, um persönlich den dicken Fragenkatalog zu überbringen, dessen Beantwortung am Anfang jedes Beitrittsbegehrens steht. Die ukrainische Regierung antwortete innerhalb von nur zehn Tagen, während das in anderen Ländern mit EU-Ambitionen zum Teil viele Monate gedauert hat. Die Kommission will die Antworten kommenden Monat bewerten und entscheiden, ob sie den EU-Staaten empfiehlt, der Ukraine den Status „Beitrittskandidat“ zuzuerkennen. Stimmen alle zu, können die Beitrittsverhandlungen beginnen. Ziemlich klar ist: Würde die Ukraine rasch aufgenommen, wie ihre Regierung, aber auch die USA das wünschen, wäre es schwierig, die Westbalkanstaaten, aber auch Georgien und Moldawien lange warten zu lassen. Es sei denn, die Aspiranten würden in Macrons „politischer Gemeinschaft“ geparkt.

Vielleicht geht es dem französischen Präsidenten dabei nicht nur um Transitionskosten, demokratische Institutionen und Rechtsstaatlichkeit bei den potenziellen Anwärtern. Denn sie würden den Kreis jener EU-Staaten vergrößern, die schon jetzt eher den USA als Hegemon des „Westens“ und militärischer Schutzmacht zuneigen als „mehr Europa“ in Form einer stärkeren politischen Integration und mehr Demokratie, wie das Europaparlament es nun nach Abschluss der Zukunfts-Konferenz diskutieren wird. Um vielleicht sogar einen Konvent einzuberufen, der Änderungen an den EU-Verträgen vorschlägt.

Im Grunde zieht Macrons Vorschlag die Frage nach sich, was Russlands Krieg in der Ukraine auf längere Sicht für die Europäische Union bedeutet. Eine mögliche Antwort könnte lauten, dass sie im Zuge der transatlantischen Einigkeit, die gegenüber Russland gefunden wurde, politisch abhängiger von den USA wird. Was etwas anderes wäre als die französische finalité bereits lange vor Mitterand.

Peter Feist
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