Die kleine Zeitzeugin

Der Kater danach

d'Lëtzebuerger Land vom 12.01.2024

Man kann ja nicht sagen, dass sie sich keine Mühe gaben. Sie. Wir. Die Menschen. Dass wir uns keine Mühe gaben. Als das alte Jahr verendete und es zur Hölle geschickt wurde aus der schon ein neues auftauchte, schon randaliert es vor der Tür. Wir grüßten, etwas unsicher diesmal. Wir sind ja gebrannte Kinder, wie wir so durch den Wunderhagel laufen, um unsere Schädel irrlichtert es und am Horizont dräuen neue Monster, die alten machen es sich auf dem Thron bequem. Wir sind skeptisch geworden. Wie oft haben wir in den letzten Jahren gedacht, dass es jetzt bestimmt wieder super wird, das haben wir schließlich gebucht, grad wir hier, und alles war nur ein Irrtum? Diese komische Zeit, Masken, Krieg nebenan, der muss sich in der Adresse geirrt haben. Aber dann ist er eingezogen, und es ist Ernst geworden, und wir sind ernst geworden.

Und Weihnachten wurde plötzlich wieder Weihnachten genannt. Nicht mehr X-Mas oder sonst was panisch Ironisches. Und es wurde, zumindest erschien mir das so, in den sogenannten sozialen Medien noch mehr gewünscht als in früheren Jahren. Ausgiebiger. Und, zumindest erschien mir das so, anders. Wahrhaftiger. So als würde man einander wirklich wünschen. Gutes auch noch. Nicht nur das Beste. Manche schrieben gar, wir sollten aufeinander aufpassen. Uns um einander kümmern. Nett zueinander sein. Zugewandt. Selbst hartgesottene Linke vertagten das Menschliche nicht bis nach der Revolution.

Nichts als Liebe. Ich bin Liebe. Liebe trieft aus all meinen Poren, meine Empathie ist grenzenlos, mit allen Dummköpfen und Gemeinen, wer bin ich über sie zu urteilen? Vielleicht bin ich doch eine Heilige? dämmert es mir. Angeschlossen an einen universellen Liebesgenerator, eine kosmische Love Machine, Turn on, Tune in!, wie das in der guten, alten Zeit hieß. Und ich bin nicht allein, lauter Liebe, wohin ich auch blicke! Also nicht nach Gaza, da schau ich jetzt einfach nicht hin.

So Balsam. So könnte es ewig weitergehen, denke ich. Love & Peace Recycled, können wir grad gut gebrauchen. Ist grad so verdammt ungemütlich. Kalt wird’s auch noch. Ich lese, dass eine Wärmepumpe im Meer ausfallen könnte und wir dann in eine Eiszeit abdriften.

Und dann ist es vorbei. Wie eine Krankheit. Ich wache auf und es ist vorbei. Ich bin ernüchtert. Geheilt. Würge höchstens noch an all den Liebesausscheidungen.

Wenn ich z.B. im Abreißkalender blättere, den mir eine liebe Freundin geschenkt hat. Heilende Gedanken für jeden Tag 2024, heißt er. Wie war ich gerührt, weil sie es so gut mit mir meint, oder wenigstens meint, es gut mit mir zu meinen, bestimmt will sie mir was Gutes tun. Mich heilen von mir.

Ich könnte es ja mal versuchen! Offen für alles Schöne, man sollte sich nicht immer so sperren. Die Autorin hat fünfzig Millionen Bücher verkauft, die von Heilung, Dankbarkeit und innerer Kraft handeln. Sie ist erst vor kurzem gestorben, uralt natürlich und wahrscheinlich so faltenfrei, wie auf den Fotos auf denen sie so aufreizend aufmunternd lächelt. Sie hat jede Menge Sprüche auf Lager, die noch besser sind als die vom Dalai Lama. Diese Sprüche sind immer aufbauend. Am 6. Januar z.B. beruhigt sie mich: „Es ist völlig in Ordnung, Geld zu besitzen. Ich verwende mein Geld weise.“

Warum habe ich plötzlich Schaum vor dem Mund? Bin ich jetzt auch noch besessen? Warum dieser Backlash? Vielleicht vertrage ich Positives Denken nicht? Ich war doch gerade erst süchtig danach, konnte gar nicht genug kriegen? Wie die Menschen sich plötzlich umschnurrten und mental kuschelten, sich überschütteten mit nahrhafter Freundschaft. Als wären wir alle unterernährt. Wie wir uns gegenseitig ermahnten aufeinander zu schauen, und es mir zum ersten Mal ernstgemeint vorkam. So als hätten alle ein Riesenbedürfnis nach dem Guten, nach Sinn, was plötzlich identisch war, allen fiel es wie Schuppen von den Augen. Als wären wir jetzt Andere geworden, jetzt aber wirklich, in echt. Nicht nur bessere Menschen light, wie nach Corona, wie nach Greta.

Warum kann es nicht immer so weiter gehen? Halten wir Liebe nicht aus? Zumindest keinen Marathon? Könnten wir nicht einfach weitermachen, beharrlich begeistert wie die Christmas-Freaks?

Michèle Thoma
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