Die Anfrage war unbequem: Um einen Kredit von 8 200 Euro über eine Laufzeit von vier Jahren bat ein Handwerksgeselle ein Arloner Kreditunternehmen. Zuvor aber wollte er das Kleingedruckte lesen. Das Kreditunternehmen weigerte sich, den Vertrag zu faxen, und bat den Kunden stattdessen zum Gespräch. Dort angekommen, versuchte der Finanzberater den potenziellen Kunden direkt zur Unterschrift zu überreden. Der beharrte misstrauisch darauf, über die Folgekosten aufgeklärt zu werden. Zu Recht: Mit einem Zinssatz von 14 Prozent hätte der Geselle insgesamt 10 500 Euro bezahlen müssen.
„Etwa zwei Drittel aller Personen, die zu uns kommen, haben Kredite bei belgischen Finanzinstituten, die sie nicht zurückzahlen können“, stellt Christian Schumacher vom Schuldnerberatungsdienst der Ligue luxembourgeoise de prévention et d’action médico-sociales fest. Dubiose belgische Geschäftemacher stehen aber meist nur am Ende einer Kreditspirale, die nicht zuletzt im eigenen Land dreht. Mit rund 51 Millionen Euro standen luxemburgische Verbraucher Ende Februar bei inländischen Banken in der Kreide, auch „dank“ Autofestival. Oft folgt auf das Auto die Waschmaschine oder der Fernseher – bis das eigene Einkommen nicht mehr ausreicht, um all die Raten, Rechnungen, Mietzahlungen und sonstige Ausgaben fürs Leben zu bestreiten. Abgesehen von einem Evaluationsbericht des Überschuldungsgesetzes aus dem Jahr 2006 fehlen systematische Schuldnerstatistiken. Experten gehen aber davon aus, dass selbst im reichen Luxemburg ein paar Tausend Haushalte in der Finanzsackgasse feststecken. Mit der Wirtschaftskrise könnte die Verschuldung der Privathaushalte rasant zunehmen: steigende Anträge auf Kurzarbeit und wachsende Arbeitslosigkeit bedeuten weniger Geld im Portemonnaie.
Da trifft es sich, dass Familienministerin Marie-Josée Jacobs (CSV) kürzlich einen Gesetzentwurf zur Reform des Insolvenzrechtes vorgelegt hat. Sozusagen kurz vor Toresschluss löst die schwarz-rote Regierung damit ihr im Koalitionsprogramm 2004 gegebe-nes Versprechen ein, das Überschuldungsgesetz zu überarbeiten. Schuldnerberatungen weisen seit längerem auf Lücken und Unklarheiten in der aktuellen Rechtslage hin. Auch das Herzstück der geplanten Reform, die Privatinsolvenz (faillite civile), war schon Thema, als das Gesetz zur Überschuldung 2000 im Parlament diskutiert wurde. Damals konnte sich die schwarz-blaue Mehrheit nicht zur Einführung durchringen, aus Angst vor Protesten aus dem Bankensektor. Insbesondere die Banken- und Ban-kiersvereinigung ABBL hatte das Überschuldungsgesetz in einem inoffiziellen Avis heftig bekämpft.
Auf wenig Begeisterung bei den Banken dürften daher die jüngsten Regierungspläne stoßen, wonach hoch verschuldete Privatpersonen sich wie ein Unternehmen offiziell für pleite erklären können. Schuldner, die sich in einer „situation irrémédiablement compromise“ befinden, sollen künftig eine neue, dritte Phase, den rétablissement personnelle, beantragen können. Wenn alles gut läuft, beginnt für sie danach der finanzielle Neubeginn; vorausgesetzt, sie bringen die nötige Disziplin, das Durchhaltevermögen und gute Berater für das steinige Insolvenzverfahren mit.
Ehe der rétablissement beantragt werden kann, muss der Schuldner zunächst die bekannten Phasen durchlaufen, also die außergerichtliche Einigung, und, wenn die nicht klappt, das Gerichtsverfahren. Für beide muss er seine Finanzmisere vollkommen offen legen. Mahnbescheide, unbeglichene Rechnungen, Kreditverträge, Mietschulden, sämtliche Unterlagen, die eine Überschuldung belegen, müssen auf den Tisch, wenn es darum geht, gemeinsam mit den Beratern der Services d’information et de conseil en matière de surendettement (Sics) und den Gläubigern einen maximal sieben Jahre andauernden Schuldenbereinigungsplan plan de redressement conventionnel zu verhandeln.
Bislang genügte das Einreichen des Antrags , um Pfändungen und Zwangsversteigerungen vorläufig auszusetzen. Nun beginnt die „Schonfrist“ erst, wenn der Antrag von der übergeordneten Mediationskommission zugelassen wurde. Die Schuldnerberatungen begrüßen die „neue Klarheit“, befürchten aber zugleich, ungeduldige Gläubiger könnten das kurze Zeitfenster zwischen dem Einreichen des Antrags und seiner Zulassung nutzen, um noch schnell ein paar Schulden einzutreiben. Klarere Informationspflichten und Fristen sollen dafür sorgen, dass jeder Gläubiger gleichermaßen die Chance hat, seine Forderungen durchzusetzen. Echte Kontrolle fällt schwer, denn die Gläubiger kennen nur die sie jeweils betreffenden Inhalte vom Plan. Auch für die Kommission, die im Zuge der Reform an Bedeutung gewinnen würde, hätte sich manch einer „mehr Transparenz“ gewünscht. Als Kreditexperten sitzen dort je ein Rechtsberater der Raiffeisen-Bank und ein Vertreter der Dexia-Bank mit am Verhandlungstisch. Für Kommissionspräsident Pierre Jaeger, zugleich Präsident des nationalen Solidaritätsfonds und höchster Beamter im Familienministerium, kein Problem, schließlich verbiete „die Deontologie“ bei Interessenskonflikten mit abzustimmen. „Das sieht nicht gut aus“, kritisiert dagegen Christian Schumacher von der Ligue.
Für eine „deutliche Verbesserung“ aber hält der Berater die neue Zustimmungsformel. Weil bei der Mehrheit der Schuldner, die in die Schuldenberatungsstellen kommen, weder Einkommen noch Sachwerte zu holen sind, aber jeder einzelne Gläubiger den Plan unterschreiben muss, tendiert die Chance auf eine außergerichtliche Einigung nicht selten gegen Null. Künftig soll es genügen, wenn drei Viertel der Gläubiger, die drei Viertel der geschuldeten Masse vertreten, den Schuldenplan akzeptieren und unterschreiben. „Somit könnten wir mehr Schuldenpläne durchbringen“, hofft Schumacher.Klappt das nicht, folgt der Gang zum Gericht. Der Richter versucht noch einmal, den gefassten Schuldenplan durchzusetzen. Scheitert auch dieser Versuch, wird, ähnlich wie bei betrieblichen Insolvenzen, ein Treuhänder oder Konkursverwalter engesetzt, der noch einmal akribisch alle Vermögenswerte des Schuldners prüft und Pfändbares bis auf das Lebensnotwendige verteilt. Mit einer wichtigen Ausnahme: Anders als bisher darf ein Schuldner, der mit Frau und Kindern in einem eigenen Haus lebt oder dem ansonsten Armut droht, sein Haus behalten. Der Richter kann die Laufzeit des Schuldenplans verlängern, damit mehr Zeit bleibt, laufende Immobilienkredite zurückzubezahlen. Entgegen der landläufigen Meinung sind es nicht nur Arbeiter und kleine Angestellte, die in der Schuldenfalle feststecken. „Vor Jahren hatten wir einen Hausbesitzer pro Jahr, der uns um Hilfe bat, inzwischen machen die Hausbesitzer fast ein Drittel unserer Klienten aus“, sagt Susana Canaria von Inter-Actions in Esch. Die Überschuldung, so scheint es, betrifft zunehmend auch die Mittelschicht.
Ist der Schuldenberg riesengroß und auch in sieben Jahren nicht abzutragen, bleibt als letzte Möglichkeit die Privatinsolvenz. Obwohl seit vielen Jahren auf dem Wunschzettel der Schuldnerberatungen stehend, ist die Freude über die geplante „faillite civile“ nicht ungetrübt. Einem Schuldner, bei dem nichts zu holen ist und ein Schuldenplan ergo wenig bringt, kann der Richter eine Bewährungsphase von bis zu fünf Jahren auferlegen. Laut Entwurf aber hätte der Richter beim rétablissement personelle erneut die Möglichkeit, die Akte an die Mediationskommission zurückzugeben und einen Schuldenplan von maximal sieben Jahren aufzuerlegen, beispielsweise um eine bevorstehende Liquidation des Hauses zu verhindern. Gehe zurück auf Start. Im Prinzip wäre also eine Gesamtlaufzeit von 12 Jahren möglich. Zum Vergleich: In Belgien, das eines der fortschrittlichsten in Europa hat, gelten mehr als fünf Jahre Pleite als nicht zumutbar und mit der menschenwürde nicht vereinbar, in Deutschland sind es sechs Jahre, in Frankreich zehn. Der Weg in die Schuldenfreiheit bliebe äußerst mühsam, weil während des gesamten Verfahrens harte Auflagen gelten: Wer mit den Gerichten und Sozialdiensten nicht voll kooperiert, wer falsche Angaben über seine finanzielle Situation macht oder Auskünfte verweigert, wer als Arbeitsloser sich nicht ernsthaft um eine Arbeit bemüht oder mehr als das Allernötigste kauft, riskiert den Abbruch. „Für jemanden, der kaum Geld zum Leben hat und null Aussicht auf Verbesserung, sind sieben Jahre schon zu lange“, warnt Jan Nottrot von Inter-Actions. Gefragt, warum der Gesetzgeber nicht wenigstens sieben Jahre als maximale Obergrenze für das Gesamtverfahren festgeschrieben hat, antwortet Pierre Jaeger aus dem Familienministerium kurz angebunden: Man müsse das Gesetzgebungsverfahren abwarten.
Zeit, den Text nachzubessern, bleibt in der Tat reichlich. Dass der Entwurf es vor Ende der Legislaturperiode ins Plenum schafft, ist so gut wie ausgeschlossen, auch wenn Inter-Actions sein Gutachten im April vorlegen will. Die Reform genießt keine politische Priorität, was sich schon an der späten Vorlage ablesen lässt. Im Gesetzespaket, mit dem die Regierung die Folgen der Wirtschaftskrise bekämpfen will, ist der Entwurf ebenfalls nicht enthalten. Von Bürokratieabbau, eines der Leitziele des Konjunkturprogramms, und wichtiger Grund, warum in Deutschland das kostspielige Konkursverfahren 2008 erheblich gestrafft wurde, kann nicht die Rede sein: Würde der Entwurf in der Form verabschiedet, würde das Überschuldungsgesetz künftig 16 statt aktuell sechs Seiten umfassen; „das Verfahren ist extrem schwerfällig“, findet Jan Nottrot. Aus politischen Überlegungen ist der Zeitpunkt trotzdem geschickt gewählt: Die Regierung braucht sich zumindest in diesem Punkt von der Opposition nicht vorwerfen lassen, sie habe ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Gleichzeitig vertagt sie kontroverse Auseinandersetzungen um strittige Inhalte auf ungewisse Zeit.
Nicht verschieben lässt sich indes die Wirtschaftskrise. Die kürzlich zur Hälfte vom Staat übernommene Ex-Fortis-Bank, jetzt BGL, wirbt neuerdings mit „einfachen und transparenten Lösungen“ und will damit Kunden, die aufgrund der Wirtschaftskrise Schwierigkeiten haben, ihre Kreditraten zurückzubezahlen, etwas mehr Puffer einräumen. Ganz ungefährlich ist das nicht: Denn niedrigere Zinsen oder Zinsmoratorien auf Immobilienkredite und andere Ratenzahlungs-Sonderangebote schaffen wiederum Anreize – denen manch ein Verbraucher nur schwerlich widerstehen kann.Das Problem der Kreditspirale und des Schuldentourismus, so viel ist sicher, würde auch ein reformiertes Insolvenzgesetz nicht lösen. Das kommt schließlich erst zum Einsatz, wenn das Kind längst in den Brunnen gefallen ist. Dann hilft kein „Sünden“-Register, in das überschuldete Verbraucher künftig gespeichert werden und das Gläubiger einsehen können sollen. Besser wäre womöglich ein Informationsaustausch zwischen den Banken, wie ihn die Schuldnerberater von Inter-Actions fordern, um Risikokreditnehmer schon im Vorfeld erkennen – und meiden – zu können. Im Belgien beispielsweise sind die Finanzinstitute dazu verpflichtet, die Kreditwürdigkeit ihrer Landsleute (und nur dieser), vor dem Abschließen eines Kreditgeschäftes zu prüfen. Einen solchen Vorschlag in Luxemburg vorzubringen, aber hieße, an einem weiteren großen Tabu zu rütteln: dem Bankgeheimnis.