Angel, Emil: An klaren Wassern

Reisebilder

d'Lëtzebuerger Land du 10.10.2002

Noch den deutschen Romantikern galt das Wandern als Königsweg zur Selbstinspektion. So, wie der Mensch ausgreifenden Schrittes die Natur durchmisst, so durchforscht er auf seinen Wanderpfaden auch sein Innerstes. Seelenbekenntnis und Naturerlebnis liegen hier eng beieinander, verquicken sich mitunter zu metaphysischen Volten. Bei Wilhelm Müller und Franz Schubert zum Beispiel, wo ein nächtlicher Abschied zum existenzialistischen Bekenntnis wird: "Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh' ich wieder aus."

Emil Angel verzichtet weitgehend auf solche, wie man wohl heute leicht spöttisch sagen würde, gefühlsmäßig aufgeladene Korrespondenzen. Ihm dürften andere Verse von Wilhelm Müller näherliegen: "Es bellen die Hunde, es rascheln die Ketten, es schlafen die Menschen in ihren Betten." Bei seinen Wanderskizzen tritt der Mensch oft nur als schemenhaftes Wesen hervor, bestenfalls geeignet, als unscheinbares Detail im Naturpanorama, oder aber als Stichwortgeber für eine eingehendere Naturbetrachtung wahrgenommen zu werden.

Das soll aber keineswegs als Kritik missverstanden werden, denn von einer Ausnahme ("Drei Mann in einem Ford - Streifzüge durch den irischen Regen") abgesehen, fehlt in Emil Angels eindruckvollsten Reiseskizzen das menschliche Element fast völlig. Bei einer Wanderung durch das spätherbstliche Watt etwa fällt ihm die "Dynamik dieser monotonen Landschaft" ein, "ihre grenzenlose Offenheit, die direkte Konfrontation mit Himmel, Erde und Meer", und der Leser hält Schritt mit dem Erzähler und durchschreitet die Weiten der Ebene: "In dieser nur waagerechten Landschaft wird alles Senkrechte wichtig und bedeutsam: ein einsames, hochgeschossenes Riedgrasbüschel, ein in den Sand gerammter Pfahl werden zum imponierenden Blickfang: jedes Stück Sandgut, sei es ein ramponierter Holzkasten, ein durchlöcherter Wäschekorb oder ein aufrecht stehender Stiefel, kündigt sich auf weite Distanz geheimnisvoll an und existiert, auch wenn es längst sein triviales Wesen aufgegeben hat, mit einer befremdenden Intensität wie ein Stillleben auf Sandgrund."

Das Watt, jene Landschaft, in der der "Himmel nie zur Einheit" kommt, übt auf Emil Angel auch in anderen Stimmungsbildern eine eigentümliche Faszination aus: das Zusammenfallen von Nähe und Ferne, in dem der Wanderer vorwärtsbewegend Kurs und Orientierung aufgibt.

Eintauchen, sich hingeben und verlieren: dazu bedarf es dem Reisenden nicht unbedingt der scheinbaren Unbegrenztheit der Küstenebenen. Emil Angel durchstreift die engen, verschachtelten Gassen Prags, um sich mit der gleichen Hingabe an die wechselvolle Geschichte einer Stadt zu verlieren, an ihre skurrilen und modernen Golems, an ihre lebendig gebliebenen Erinnerungen in den Farben des Hopfens und der Herbstsonne.

Reise- und Stimmungsskizzen gehören zum Erquicklichsten, was deutsch-luxemburgische Literatur hervorbringt. Emil Angels Anthologie An klaren Wassern, mit Texten die aus den Jahren 1982 bis 1998 stammen (und von denen viele im Lëtzebuerger Land erstveröffentlicht wurden), widerspricht dieser allgemeinen Feststellung nicht.

 

Emil Angel: An klaren Wassern, éditions saint-paul 2002, 180 S., 19,91 Euro; ISBN: 2-87963-416-4

 

 

 

Jhos Levy
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