Österreich

Der Hundertprozent-Karl

d'Lëtzebuerger Land vom 20.05.2022

100 Prozent. Dagegen verblassen realsozialistische wie autokratische Wahlergebnisse gleichermaßen. Karl Nehammer, Chef der ehemals Neuen Österreichischen Volkspartei, mausert sich vom Trümmer- zum Hundertprozentmann der Konservativen. Beim Parteitag der gebeutelten ÖVP Mitte Mai in Graz stimmten ausnahmslos alle Delegierten für den 49-Jährigen Wiener. Während die Partei ihren neuen Strahlemann feiert, ätzen Außenstehende, das Ergebnis sage mehr über den verzweifelten inneren Zustand der Partei aus, als über ihren Chef.

Nehammer hatte den Vorsitz im Dezember übernommen, als Sebastian Kurz zwei Monate nach seinem Rücktritt als Kanzler auch das Amt des Parteichefs niedergelegt und sich komplett aus der Politik zurückgezogen hatte; und dabei eine verstörte Partei, eine ebenso verstörte türkise Ministerriege und eine genervte Öffentlichkeit zurückließ. Affären und im laufenden Untersuchungsausschuss immer wieder neu auftauchende Korruptionsvorwürfe, drei Kanzler innerhalb von drei Monaten verschlissen, das Regierungsteam mehrmals ausgewechselt – da trat in Gestalt des Karl Nehammer das Versprechen von Stabilität und Verlässlichkeit auf den Plan: Ehemaliger Berufssoldat, langjähriger Parteifunktionär, weitgehend respektierter Innenminister in der Kurz-Regierung.

Zunächst nach allen Richtungen auf Konsens bedacht, etwa die Sozialpartner wieder einbindend, zeigte Nehammer nach Beginn des russischen Kriegs gegen die Ukraine ungeahnte Profilierungsambitionen. Beratend begleitet vom ehemaligen Bild-Chefredakteur Kai Diekmann, reiste er zuerst nach Kiew und dann nach Moskau. Wenig später ließ er plötzlich mit nahezu linkem Gedankengut aufhorchen: Die Teilprivatisierung staatsnaher Betriebe wie Infrastrukturunternehmen oder des Mineralölkonzerns OMV in der Vergangenheit nannte er einen Fehler, der sich nun in Krisenzeiten räche: Die Unternehmen strichen massive Gewinne ein, während die Steuerzahler unter den steigenden Preisen, allem voran für Energie zu leiden hätten. In dieser Situation könne er sich eine „Gewinnabschöpfung bei Krisengewinnlern“ vorstellen, überlegte Nehammer öffentlich – das klang so gar nicht mehr nach der reinen Lehre des Neoliberalismus, der Kurz gehuldigt hatte.

In seinem Bemühen, sich von der Ära seines Vorgängers abzuwenden, erhielt Nehammer wenige Tage vor dem Parteitag noch Rückenwind: zwei verbliebene türkise Ministerinnen gaben innerhalb von Stunden ihren Rücktritt bekannt. Landwirtschaftsministerin Elisabeth Köstinger, langjährige und enge Vertraute des gefallenen Polit-Stars, und Wirtschaftsministerin Margarete Schramböck taten es nach reiflicher Bedenkzeit von drei Monaten ihrem Mentor gleich und erklärten ihren Abschied aus der Politik, nicht ohne noch zu betonen, welche „Ehre“ es denn gewesen sei, dem Land „dienen“ zu dürfen.

Das wirkte chaotisch, gab Nehammer jedoch die Gelegenheit, sein Team neu zu ordnen. Er übertrug dem parteifreien Quereinsteiger Martin Kocher, der sich als Arbeitsminister bereits Achtung erarbeitet hatte, noch die Wirtschaftsagenden und das Thema Digitalisierung und machte den Ökonomen damit zur starken Säule in seinem Kabinett. Für die Landwirtschaftsagenden holte er den Tiroler Norbert Totschnig ins Team, der aus dem einflussreichen Bauernbund kommt. Das Signal des Parteichefs war klar eine Absage an die türkise Personalpolitik nach Art der Familienaufstellung und eine Rückkehr zu altherbegrachten Besetzungsmustern.

Die Sozialdemokraten mit Pamela Rendi-Wagner an der Spitze forderten ob der 14. Neubesetzung in der amtierenden Regierung naturgemäß Neuwahlen. Die Regierung löse keine Krisen, sondern verstärke sie: die massive Teuerung bringe bereits jeden dritten Haushalt in Bedrängnis. Zustimmung finden die Sozialdemokraten bei den Freiheitlichen, die einen geplanten Neuwahlantrag der SPÖ unterstützen wollen. Rechtsaußen Herbert Kickl sieht im neu aufgestellten Kabinett „das letzte Aufgebot an Parteisoldaten“ der Konservativen, das lediglich Klientelpolitik betreibe.

Die Grünen ihrerseits betonen die gute Sachebene in der Regierungszusammenarbeit. Tatsächlich wittert die Partei offenbar Morgenluft: Der unübersehbar schwierige Stand als Junior in – wenn auch selbstgewählter – Zwangsgemeinschaft mit dem dominierenden Team Kurz in den ersten zweieinhalb Regierungsjahren weicht einer Neuen Sachlichkeit. Marksteine in der Klimapolitik konnten endlich umgesetzt werden, zuletzt setzte Gesundheitsminister Johannes Rauch ein Zeichen und präsentierte eine seit Jahren geforderte Pflegereform, die erst für den Sommer erwartet worden war und trotz mancher Lücken und Unklarheiten weitgehend positiv aufgenommen wurde.

Mit Nehammer hat Parteichef Werner Kogler neben einer gehörigen Portion Pragmatismus auch die Erfahrung als Krisenmanager gemeinsam: Kogler hatte seinerseits die Parteiführung zu einem Zeitpunkt übernommen, als die Grünen richtungslos und personell charismabefreit dümpelten. Vizekanzler Kogler ist der Wiederaufbau bis hin zum Sprung in die Regierung gelungen, doch die Wähler wollen nun auch Erfolge sehen; Nehammer hat genug damit zu tun, den brüchigen Stand zu halten, den sein Vorgänger mit seiner PR-Maschinerie erobert hat. Gemeinsam sind sie zum Erfolg verdammt.

Irmgard Rieger
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