Die Kleine Zeitzeugin

Morrisons Todessog

d'Lëtzebuerger Land vom 16.07.2021

Vor fünfzig Jahren hat Jim Morrison das Zeitliche gesegnet, ich schaue mir eine Doku über den Sänger von The Doors auf Arte an. Nachher ist mir schlecht. Ich scheine Jim Morrison nicht mehr zu vertragen. Ich scheine den Gott meiner Juhugend nicht mehr zu vertragen.

Poster-Ikone wie Che Guevara, das in Marmor gemeißelte Antlitz, Backenknochen, Löwenlocken, Raubtierblick. Lockender Mund. Der Jüngling aus der Antike, der Raubtierische mit den Schlangenbewegungen. Der homoerotische Engel, so erscheint er mir jetzt, wobei die Erotik der Engel sowieso eine unbegrenzte ist. So ein eindeutig zuweisender Begriff wäre mir damals nicht eingefallen; trotz Macho-Mackertum und obschon es kaum Outings lesbischer oder schwuler Stars gab, war die Rockszene ja androgyn. Die schamlosen Lippen des Mick Jagger, die knochig-eckige Patti Smith, Stimme aus glühendem Metall, die schlaksigen Bewegungen. Androgynität gehörte dazu, waren wir nicht alle alles, Mann Frau, Frau Mann, eins auch noch? Welcher Mensch, der je einen Joint geraucht hat oder zumindest kurzfristig von einer Erleuchtung heimgesucht wurde, konnte daran zweifeln?

Die fließenden Bewegungen des Schlangenbeschwörers. Des Betörers. Stimme aus bleichem Samt. Wie er lockt und lockt und verlockt, immer weiter. Der, der den Sturm reitet, uns mitnimmt, hinreißt, weiter, durch Nacht und Umnachtung, tief hinein ins Erwachen. Awake!, shake dreams from your hair! Dem endlosen Ende entgegen in The End, my only friend. Dorthin, wo Mutter und Vater warten, in den Todestunnel, oder ist es der Tunnel der Vorgeburt? Das ist die wildeste, die kränkste, die atemberaubendste Klimax, die es in der Rockhistorie gegeben hat.

Katharsis oder nur noch krank? Bringt mir eine Ziege, ich ficke sie!, lallt Morrison auf offener Bühne, auf die alle raufkommen sollen. Sex für alle, gerade hat er sie noch als Sklaven verhöhnt. Bildmaterial zeigt, wie er sich entblößt, was „wirklich geschah“ bleibt unklar. Schon nehmen ihn kleine blaue Männer fest, in kleinen blauen Uniformen mit kleinen blauen Kappen, wie er sie beschreibt.

Unzucht, SExzesse, Ausschweifungen, Abartiges, wie man früher sagte. Wie würde man heute sagen? Wo alle Trigger-Alarmanlagen schrillen würden. Heute würde man es aber wohl gar nicht mehr sagen, nicht wegen neuer Prüderie, sondern weil man das heute nicht mehr braucht.

Dieser Drecksjob ist erledigt, diese Götter sind gestürzt, die Tabus zerschellt. Jetzt sind die Tabus andere, und neue Grenzen werden gezogen.

Das bildmächtig visionäre American Prayer, mit fahler Stimme unterwegs durch immer fahlere, leerere Landschaften, Indianerblut auf der Autobahn. Längst ist der Geschmeidige aufgeschwemmt, das beinahe puppenhaft hübsche Gesicht teigig, düster, Morrison sabotiert die eigene Kultfigur. Der Romantiker ist auf der Suche nach dem Dérèglement de tous les Sens, wie es schon Rimbaud forderte. Wer das Grenzenlose sucht, ist aber, logisch, dem Tode geweiht.

Patti Smith, Schamanin wie er, hat bis heute die Gratwanderung geschafft. Wer sie je als Medium der Energien erlebt hat, vibrierend bis in die Fingerspitzen, von Inspiration durchströmt, elektrisch aufgeladen, weiß um ihre Meisterinnenschaft. Hinspiration no. Der Todesflüsterer hingegen zieht immer tiefer rein, runter, in den Todessog. Er erliegt seinem eigenen Todessound.

Ende der Siebziger stoße ich nachts nach der Disco in Barcelona in meiner Lieblingsbuchhandlung auf einen Gedichtband in Spanisch, ich nehme ihn mit heim wie einen Schatz. Wie gut das herb-herrische Spanisch zu dem soften Sound passt! Auf dem Friedhof Père Lachaise stehe ich 1981 vor Jim Morrisons Grab. Es ist unauffällig, bescheiden, verlassen. Als wäre er schon ewig tot. Vielleicht wegen der Zeitenwende, niemand will mehr ein komischer Hippie sein, ein abstoßender Freak, es ist die Zeit der blendenden Oberfläche, Albernheiten à la Neue Deutsche Welle sind in. Jetzt, wie der Arte-Beitrag zeigt, wird das Grab mehr und mehr zur Kultstätte, Devotionalien türmen sich.

Nach der Arte-Doku ist mir schlecht. Wahrscheinlich bin ich zu alt für den Tod.

Michèle Thoma
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