Die Reformpläne zur Éducation différenciée werfen die Frage auf, wie ernst es die DP/LSAP/Grüne-Regierung mit der Inklusion meint

Undemokratisch, undurchsichtig, Unrecht

d'Lëtzebuerger Land vom 25.08.2017

Die Stimmung ist mies bei den Behindertenorganisationen. Im Juni hatten Alpeed, Trisomie 21 und Zesummen fir Inklusion einen Brief an Erziehungsminister Claude Meisch und Familienministerin Corinne Cahen (beide DP)  geschrieben und sich bitter beklagt. Es ging um Änderungen zum Grundschulgesetz, die neue Zuständigkeiten sowie die Funktionsweise der Commission d’inclusion scolaire (CIS), künftig Commission d’inclusion, festlegen. Obwohl ein Vorentwurf bereits im Februar vorlag, wurde die Novelle den Behindertenorganisationen erst im Mai zur Stellungnahme zugestellt. So knapp war die Zeit, dass auch der Hohe Behindertenrat, der für die Interessen von Behinderten eintritt, sein Gutachten nicht mehr rechtzeitig zur Abstimmung Ende Mai fertig bekam.

Doch die Kritik hält an und es steht zu befürchten, dass die Rentrée dieses Jahr mit einem Organisationschaos beginnen wird. So sollen laut Gesetzesänderung jene Teile des Personals der Éducation différenciée, die mit förderbedürftigen Kindern in der Regelschule arbeiten, den ab Herbst ihre Arbeit aufnehmenden regionalen Direktionen zugeordnet sein. Édiff-Personal, das in den Sonderschulen und spezialisierten Zentren tätig ist, bleibt dagegen der Édiff unterstellt. Weil aber Kinder teilweise in der Édiff und in der Regelschule sind, ist Durcheinander programmiert.
Auch die neuen Regeln der Inklusionskommission sorgen für Ärger. In ihr sind vertreten: der Direktor, ein Lehrer, drei Mitglieder der mobilen Förderteams, ein Vertreter des Ministeriums, einer der Éducation différenciée, die in Zukunft in Kompetenzzentren überführt wird (siehe weiter unten). Zusätzlich kann, bei Bedarf, ein Schulmediziner, eine Kinderärztin oder eine Sozialassistentin hinzugezogen werden. Doch viele behinderte Schüler werden schon von Ergo- und Sprechtherapeuten oder Psychomotorikern betreut, für sie ist jedoch kein fester Platz in der Kommission vorgesehen, obwohl ihre Arbeit für den Lernprozess unverzichtbar ist.

Eine weitere Kritik von Eltern und Behindertenorganisationen ist, dass die Experten der CIS, die eigentlich den inklusiven Unterricht und die individuelle Betreuung organisieren sollen, behinderte Kinder eher aus medizinischem Blickwinkel betrachten und zuweilen mit einer defizitärer Sichtweise: Anstatt zu prüfen, welche Fähigkeiten das Kind mitbringt und vor allem was die Schule braucht, um das Kind unterrichten zu können, werde betont, was nicht geht. Kommissionen tagen ohne Anwesenheit der Eltern, die oft lediglich angehört werden, statt sie in Gestaltung und Umsetzung des Förderprogramms aktiv einzubinden. Dem Land sind Fälle bekannt, in denen Eltern Sitzungsberichte extra anfragen mussten – und dennoch nicht ausgehändigt bekamen.Diese Experten-Übermacht bleibt bestehen, die Novelle sieht lediglich vor, dass Eltern „sont invités à participer à une réunion de concertation préalable avec des membres de la CI en vue de prépara-
tion de la proposition de prise en charge“. Dabei hatte Minister Meisch wiederholt mehr Elternbeteiligung und -einbindung versprochen. Es ist abzusehen, dass die Elternbeschwerden rund ums Thema Inklusion mit dem Gesetz künftig nicht weniger werden dürften.

Die Lehreraus- und -weiterbildung wurde aus dieser Reform ausgeklammert. Sonderpädagogisch geschulte Lehrkräfte, zum Teil aus den Édiff, zum Teil neu eingestellt, sollen Lehrer bei der Umsetzung eines inklusiven Unterrichts unterstützen. Was Experten als notwendigen Schritt für mehr Inklusion begrüßen, könnte insofern für neue Spannungen sorgen, wenn nicht klar ist, wer welche Kinder betreuen wird. Weil künftig in Kindern mit „besoins particuliers“ und Kindern mit „besoins éducatifs spécifiques“ unterschieden wird, befürchten nicht nur Behindertenorganisationen und der Elterndachverband Fapel, sondern auch Experten der Uni Luxemburg, dass hier zwei Gruppen von Kindern geschaffen wird: diejenigen, die mit etwas Förderung dem Regelschulprogramm folgen und jenen, bei denen dies aufgrund der Behinderung nicht der Fall ist, die dann in Sonderschul- oder Kohabitationsklassen betreut würden.

Denn anders als der Minister beteuert hat, wird die Éducation différenciée nicht wirklich abgeschafft. Vielmehr werden in einem zweiten Gesetzentwurf, der sich auf dem Instanzenweg befindet, acht nationale Kompetenzzentren bestimmt. Behindertenverbände sprechen empört von „Mogelpackung“. Ihr Misstrauen ist insofern nachvollziehbar, als im Motivenbericht nicht deutlich wird, ob es sich bei den Kompetenzzentren um Ressourcenzentren handelt, die den Regelschulen zuarbeiten, indem sie Lehrern mit dem nötigen Fachwissen beiseite stehen, und so die Inklusion vorantreiben. Und ob auf längere Sicht, mit fortschreitender erfolgreicher Inklusion in die Regelschule, sich ihre Bedeutung und ihr Einfluss verringert. Oder ob es nicht doch darum geht, die alte Édiff im neuen Gewand fortbestehen zu lassen. Denn den Kompetenzzentren bleibt die Möglichkeit ausdrücklich vorbehalten, neben ambulanten sonderpädagogischen Teams feste Sonderschulklassen einzurichten. Außerdem steht im Text, die Kompetenzzentren wären autonom, ihre Geltungsbereiche würden  „considérablement élargis et leurs moyens seront renforcées“. Das klingt nicht nach einem ernsthaften Bestreben, ein einheitliches inklusives System für alle Kinder auf-, sondern danach, bestehende Sonderstrukturen auszubauen.

So soll es neben Zentren für Seh- und Hörbehinderungen oder Psychomotorik eines für Verhaltensauffälligkeiten geben. Welche Auffälligkeiten sind gemeint, welche Kinder betroffen? Wird das nicht dazu führen, dass bestehende Schieflagen fortgeschrieben werden? Der typische Sonderschüler ist männlich und stammt aus einer sozial schwachen Familien; der Anteil an Portugiesen in der Édiff ist, gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil, überproportional hoch. Und was geschieht eigentlich, wenn ein Kind mehrere Einschränkungen hat?

Der Motivenbericht betont zwar, dass die Éducation différenciée heute nicht mehr die von früher sei, dass in den vergangenen Jahren zahlreiche Veränderungen vorgenommen wurden, sei es in Form von Weiterbildung, Professionalisierung und Qualitätsentwicklung. Das mag stimmen, leider war der Sonderschulbereich nie vorbildlicher Schüler in Sachen Transparenz und Rechenschaft: Kein Audit, kein externer Evaluationsbericht (außer einem Leak 2008 zur skandalumwitterten Édiff in Esch) wurden je veröffentlicht. Der Webauftritt ist alles andere als zugänglich und erfüllt nicht einmal die Grundanforderungen eines barrierefreien Internets. Wer aktuelle Daten sucht, tut dies meist vergeblich. Es gibt bis heute keine reguläre unabhängige Berichterstattung über Qualität und Entwicklung der einzelnen Zentren, über Personal und Professionalisierung, die Interessierte einsehen könnten. Das stärkt nicht gerade das Vertrauen, zumal es bei der Inklusion nicht um eine Gefälligkeit geht, über die Lehrer, Schulen, Sonderpädagogen und Politiker nach Gutdünken entscheiden könnten: Bei der Inklusion handelt sich um völkerrechtlich verbrieftes Recht nach der UN-Behindertenrechtskonvention, die auch Luxemburg ratifiziert hat. Und dieses steht, ganz konkret gesagt, mehreren Hundert Kindern zu, die, wie alle anderen auch, von den Schulstrukturen darin zu unterstützen sind, ihr Leben so autonom und gut ausgebildet wie möglich zu gestalten.

Ines Kurschat
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