Flüchtlingslager Moria

Die Bilder und das Vergessen

d'Lëtzebuerger Land du 25.09.2020

Als in der Nacht zum 9. September das Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos durch ein absichtlich gelegtes Feuer fast vollständig zerstört und die etwa 13 000 dort untergebrachten Menschen obdachlos wurden, dauerte es nicht lange, bis die sozialen Medien von Bekundungen der Betroffenheit und Anteilnahme überflutet wurden. Besonders viele der auf diesen Plattformen umtriebigen Politiker meldeten sich zu Wort, wobei immer wieder auf die „Bilder aus Moria“ verwiesen wurde.

„Die Bilder aus Moria gehen jedem nah – und sie appellieren an uns alle in Europa, schnell Hilfe zu leisten“, schrieb etwa der deutsche Regierungssprecher Seibert. Auch die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, sprach in ihrer rezenten Rede zur Lage der Union von den „Bildern vom Camp Moria“, welche eine schmerzvolle Erinnerung daran seien, dass Europa zueinander finden solle.

Dabei hat es weder den Brand auf Lesbos noch die Bilder davon und schon gar nicht die Krokodilstränen darüber gebraucht, um zu wissen, dass die Lage der Männer, Frauen und Kinder, die in den Lagern auf den griechischen Inseln ihres Schicksals harren, schon vor langer Zeit desaströs war. Geplant für die Aufnahme von 2 000 Menschen, waren sechs Mal mehr in Moria untergebracht, als das Lager Opfer der Flammen wurde. Dies hatte unweigerlich Konsequenzen. Die Vereinten Nationen hatten schon vor zwei Jahren die „abscheulichen Bedingungen“ angeprangert, unter denen die Menschen dort untergebracht waren und die das Lager in ein Pulverfass verwandelt hätten. Dennoch schaute man der langsam brennenden Lunte zu, nur um jetzt medienwirksam die Explosion zu betrauern.

Da war der österreichische Kanzler Kurz schon ehrlicher, wenn auch nicht minder zynisch, als er über Twitter kundtat: „Die Bilder aus Moria lassen niemanden kalt– es kann aber auch nicht sein, dass wir zulassen, dass sich 2015 wiederholt.“

Das Spektrum der vermeintlichen „Krise“ von 2015 an die Wand gemalt, als Schicksalsjahr verklärt, in dem anscheinend der Untergang des Abendlands haarscharf vermieden wurde. Nichts liegt der Wahrheit ferner, aber die Wahrheit hat längst keinen Platz mehr in der politischen Debatte um den Umgang Europas mit Flüchtlingen. Es reicht heute schon, die Jahreszahl 2015 anzugeben, um trotz aller Emotionen, die die „Bilder aus Moria“ hervorrufen, die Idee der Hilfe durch Aufnahme in andere Länder sofort im Keim zu ersticken.

Dabei war das Jahr 2015 keine Krise jener Menschen, die auf der Flucht sind. Vielmehr war für ein kurzes Augenzwinkern der Geschichte die EU im Einklang mit den Werten und Grundrechten, die doch laut den Sonntagsreden das Rückgrat der Union darstellen. Das wurde dann aber schnell wieder vergessen, genauso wie man die Menschen auf Moria und den anderen Lagern an der Peripherie der Union am liebsten in der Versenkung der öffentlichen Aufmerksamkeit verschwinden lassen will.

Dabei sollte den politischen Verantwortlichen vor allem klar sein, dass trotz aller Versuche, diesen Menschen die Würde zu nehmen in der heimlichen Hoffnung, damit eine abschreckende Wirkung zu erzielen, die EU weiterhin Zufluchtsort sein wird. Nicht weil hier die Rosinen von den Bäumen fallen und jeder mit offenen Armen empfangen wird, sondern weil ein funktionierender Rechtsstaat, eine freie Presse und stabile politische Verhältnisse Menschen aus Syrien, Jemen oder Erithrea noch immer erstrebenswerter erscheinen als ein Leben in Unterdrückung, Unsicherheit und Gewalt.

Wir sind am Scheideweg der europäischen Flüchtlingspolitik angelangt. Will man weiterhin diese abscheuliche Abschreckungspolitik verfolgen und so am Ende alle Grundwerte über Bord werfen, nur um ein paar politische Punkte zu gewinnen? Oder erkennt man endlich an, dass diese Grundwerte nur dann Bestand haben, wenn wir sie für alle Menschen gleich schätzen und respektieren?

Für die Menschen aus Moria heißt das nicht unbedingt, dass alle jetzt über die anderen Mitgliedstaaten verteilt werden sollen. Es reicht schon, wenn man vor Ort nicht nur Decken und Zelte verteilt, sondern den griechischen Behörden endlich die notwendige Hilfestellung gibt, um ordentliche Lebensbedingungen herzustellen und gerechte und zeitnahe Asylverfahren zu ermöglichen.

Wenn der politische Weg für eine gerechte Politik auch gegenüber den Ländern wie Italien oder Griechenland verbaut scheint, um zum Beispiel die Dublin-Verordnung zu begraben, so muss wenigstens sichergestellt werden, dass die von dieser unsäglichen Blockade Betroffenen nicht erneut vergessen werden und mit ihnen die Würde, die doch unantastbar ist.

Frank Wies ist Rechtsanwalt und Mitglied der Menschenrechtskommission CCDH.

Frank Wies
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