Sind Sie bereit, etwas von dem aus dem 19. Jahrhundert stammenden romantischen Traum und Alptraum von Nation, Volk und Sprache zu opfern, um weiter an der Globalisierung zu verdienen? � Ja � Nein

2005/2015

d'Lëtzebuerger Land du 05.06.2015

Wenn am nächsten Sonntag die Wähler aufgerufen sind, an einem Referendum über drei Punkte einer möglichen Verfassungsrevision teilzunehmen, sind sie bewusst oder unbewusst aufgerufen, das Referendum von vor zehn Jahren über den Europäischen Verfassungsvertrag zu wiederholen. Zumindest was die politisch wichtigste Frage, diejenige über das legislative Ausländerwahlrecht, anbelangt.

Vielleicht war, anders herum, das Referendum vom 10. Juli 2005 auch die Generalprobe für das Referendum vom 7. Juni 2015. Immerhin hatten die Regierung und die Opposition schon vor zehn Jahren versprochen, die EU-Ausländer an der Volksbefragung über den Verfassungsvertrag zu beteiligen, bis der Staatsrat herausfand, dass es zu spät war, um neue Wählerlisten aufzustellen.

Vor zehn Jahren stimmten die Wähler über ein internationales Abkommen, also über eine außenpolitische Frage ab: „Sind Sie für den Vertrag über eine Verfassung für Europa, unterzeichnet in Rom, am 29. Oktober 2004?“ Das hieß: Sind Sie für eine weitere Öffnung des Großherzogtums auf die Welt oder zumindest auf die europäische Welt? Sind Sie deshalb bereit, bisher in der Verfassung festgeschriebene nationale Hoheitsrechte mit Nicht-Luxemburgern im Ausland zu teilen? Sind Sie also bereit, etwas von dem aus dem 19. Jahrhundert stammenden romantischen Traum und Alptraum von Nation, Volk und Sprache zu opfern, um weiter an der Globalisierung zu verdienen?

Heute lautet die gleiche Frage innenpolitisch umformuliert: „Befürworten Sie die Idee, dass ausländische Mitbürger das Recht erhalten, sich fakultativ in die Wählerlisten einzuschreiben, um sich als Wähler an den Wahlen zur Abgeordnetenkammer zu beteiligen, und dies unter der besonderen doppelten Bedingung, während mindestens zehn Jahren in Luxemburg gewohnt und sich vorher bereits an Kommunal- oder ­Europawahlen in Luxemburg beteiligt zu haben?“ Das heißt: Sind Sie für eine weitere Öffnung des Großherzogtums auf die Welt, jene Welt oder zumindest europäische Welt, die nach Luxemburg gekommen ist? Sind Sie deshalb bereit, bisher in der Verfassung festgeschriebene nationale Hoheitsrechte mit Nicht-Luxemburgern im Inland zu teilen? Kurz: Sind Sie also bereit, etwas von dem aus dem 19. Jahrhundert stammenden romantischen Traum und Alptraum von Na­tion, Volk und Sprache zu opfern, um weiter an der Globalisierung zu verdienen?

Die Antwort der organisierten gesellschaftlichen Kräfte ist heute nur wenig anders als 2005: LSAP, DP und Grüne rufen heute, wie 2005, zum Ja auf – auch wenn wichtige Teile ihrer Wähler ihnen damals nicht gehorchten und es möglicherweise am nächsten Sonntag wieder nicht tun werden. Aber es geht ihnen diesmal auch um das Ansehen ihrer der Modernisierung verschriebenen Regierungskoali­tion. Die ADR, die 2005 nicht dafür war, ist heute entschieden dagegen, weil sie die verbotenen Früchte des Nationalismus ernten will. Die Kommunistische Partei, die damals entschieden dagegen war, ist heute mit etwas schlechtem Gewissen nicht dafür.

Die Unternehmerverbände riefen 2005 euphorisch, heute etwas sachlicher auf, mit Ja zu stimmen. Vor zehn Jahren ging es direkt ums Geschäft, heute eher um dessen Rahmenbedingungen. Damals wie heute hatten die Gewerkschaften zunächst gezögert, sich der Kampagne der Befürworter anzuschließen, konnten dann aber nicht anders. Vor zehn Jahren fürchteten sie die europaweite Deregulierung des Arbeitsverhältnisses, heute die nationalistische Revanche der von der europaweiten Deregulierung des Arbeitsverhältnisses Betroffenen in den eigenen Reihen.

Nur die CSV und déi Lénk geben andere Antworten als vor zehn Jahren. Die CSV, die 2005 für das Ja war, antwortet heute mit Nein – damals war sie in der Regierung, heute ist sie in der Opposition. Déi Lénk, die 2005 Nein zum neoliberalen Europa sagte, ist heute für eine Ausweitung der Demokratie.

So war unter dem Strich das Ja zum Verfassungsvertrag 2005 ein Ja des politischen Zentrums, von der CSV bis zur LSAP. Das Ja zum Ausländerwahlrecht ist heute eher linksliberal, von der DP bis zur Lénk.

Doch wie damals mussten sich die Führungen der Parteien, Gewerkschaften und Verbände heute zuerst bemühen, die eigenen Mitglieder zu überzeugen. Die Regierungsparteien fanden in den Lokalsektionen nur wenige Militanten, die für das Ausländerwahlrecht werben wollten. Bei der CSV gingen die Christlich-soziale Jugend und das Luxemburger Wort offiziell auf Distanz zur Partei. „Il y a des tensions idéologiques à droite comme à gauche et elles sont de même nature“, erklärte der ehemalige Europabageodnete Jean-Louis Bourlanges am Wochenende in Le Monde, „d’un côté, l’attente d’autorité, de nation, d’État; de l’autre, une volonté de liberté, d’ouverture sur le monde et de construction européenne.“

So mussten Befürworter und Gegner des Ausländerwahlrechts vor allem aneinander vorbei reden, wenn auch gesitteter, als von manchen erwartet. In den Faltblättern der Regierungsparteien heißt es, dass „fast die Hälfte der Einwohner Luxemburgs von Nationalwahlen ausgeschlossen [sind], obwohl sie erheblich zum gesellschaftlichen Leben und Wohlstand unseres Landes beiträgt“. Dehalb wollen sie „jenen etwas zurückgeben, die durch ihren jahrelangen Einsatz zum Wohlstand und zur Entwicklung in unserem Land beitrugen“. Sie riefen also auf, „dieses demokratische Defizit“ zu überwinden.

Darauf antwortete dann auf den Wahlversammlungen der vergangenen Wochen der skeptische Teil der Zuhörer mit hilflosen Betrachtungen, was die Luxemburger Nation sei und wie sie durch die Förderung der Luxemburger Sprache gehegt und gepflegt gehöre. Doch selbst wenn der deutsche Automobilclub zwanzig Mal mehr Mitglieder als die Luxemburger Nation zählt, war nichts anderes zu erwarten. Denn in Lokalnachrichten und amtlichen Statistiken wird die Staatsangehörigkeit stets als wichtigste und oft einzige Information angeführt. Die dümmsten und die klügsten Köpfe reduzieren hierzulande alles auf die nationale Frage, und der Staat opfert dem bald tränentriefenden, bald verwissenschaftlichten Kult der nationalen Identität bedeutende Summen.

Bei dem Referendum vor zehn Jahren ging es offenbar um einen höheren Einsatz als heute: um die außenpolitische Positionierung des Luxemburger Geschäftsmodells in einem möglichen Kerneuropa und um die innenpolitische Legitimation eines an Popularität verlierenden europäischen Projekts. Doch in Wirklichkeit ging es gleichzeitig um nichts, denn nach den Referenden in Frankreich und den Niederlanden war der Verfassungsvertrag bereits gescheitert.

Weil es damals um mehr zu gehen schien, hatte Großherzog Henri voreilig in seiner Weihnachtsansprache angekündigt, an dem Referendum teilzunehmen, und Premier Jean-Claude Juncker hatte für den Fall einer Ablehnung des Vertrags mit seinem Rücktritt gedroht. Heute war nichts vom Großherzog zu hören, und die Minister versuchten, diskret an der Kampagne vorbeizukommen. Den meisten gelang es.

Vor zehn Jahren antworteten 56,52 Prozent der Wähler mit Ja auf den Europäischen Verfassungsvertrag, 43,48 Prozent mit Nein. Das Verhältnis am nächsten Sonntag könnte ähnlich ausfallen, vielleicht zugunsten, vielleicht zuungunsten des Ausländerwahlrechts. Die gesellschaftlichen Unterschiede sind dieselben wie vor zehn Jahren und werden noch immer zu einer nationalen Frage umgebogen, durch die große Finanz- und Wirtschaftskrise wurden sie bloß noch verschärft.

Es ist die eine Hälfte, die eine Öffnung auf die Welt in Europa und zu Hause als Chance sieht, und die andere Hälfte, die sie als Bedrohung empfindet. Die eine, die glaubt, sich am Sonntag die edle Rolle von Demokratie, Großzügigkeit, Gastfreundschaft, vielleicht sogar Solidarität leisten zu können oder zu müssen, und die andere, die missgünstig glaubt, sie sich nicht leisten zu können, weil sie schon genug verloren hat oder zu verlieren sich einbildet.

Romain Hilgert
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