Wie schnell will und kann man Gegenwart aufarbeiten?
In Luxemburg ist das Genre der „Covid-Literatur“ bisher überschaubar geblieben

Schwarz auf weiß

Pferde satteln, weiterreiten?  Zwei Jahre nach Beginn der Pandemie  wirkt die Gesellschaft  des Themas überdrüssig
Photo: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land du 03.06.2022

Bald werden die letzten Masken fallen. Die Regierung erklärt die Pandemie derzeit für quasi beendet. Bigger fish to fry, moving on. Die, die im Cactus Howald Maske tragen, werden wieder zur Seltenheit. Im eigenen Umfeld fällt das Wort Covid kaum mehr, verbannt in die unmittelbare Vergangenheit, wo es scheinbar hingehört. Natürlich kann man jetzt sagen, es sei noch nicht vorbei. Die Pandemie, Covid, die große Zäsur, von der wir hofften, sie würde unser Leben in ein nahtloses „Davor“ und „Danach“ aufteilen. Was der Herbst bringt, weiß niemand. Dennoch, man hört sich um, stellt fest, dass die Allermeisten einfach weiterleben wollen. War da was? Es sind zweifellos jene, die das Glück hatten, von einem schlimmen Verlauf verschont zu bleiben, auch jene, die keine Angehörigen an das Virus verloren haben.

Literatur eignet sich als Spiegel der Gegenwart. Fast zeitgleich mit dem ersten Lockdown begannen die Schriftsteller Luxemburgs, ihre Erfahrungen niederzuschreiben. Als erstes „Covid-Werk“ erschien im Juni 2020 bei Éditions Phi von dem kurz zuvor in den Ruhestand eingetretenen Wort-Journalisten Gaston Carré L’année du rat – les métamorphoses de l’homme confiné. Die Sammlung seiner Gedanken zum ersten Lockdown sind oftmals schwer aushaltbare Stilübungen, deren Mehrwert sich bei einer Lektüre zwei Jahre später kaum erschließt. Zu hochtrabend die Wortwahl, zu abgehoben und menschenfern. Über zwei ältere Nachbarn schreibt er: „Ils sont vieux, si vieux. Ils sont touchants, c’est beau un vieux couple, mais je perçois un malaise aussi, à la vue de ces vieillards voûtés, parmi ces chantiers qui sont une ode à la verticalité, l’échafaudage d’un monde qui n’est plus le leur. Et donc, il y a quelque chose de buté, de ‘déplacé‘, dans la présence ici de ces vieux, ces vieux vivants alors que partout on meurt tant.“ Den eigenen privilegierten Standpunkt reflektiert Carré indes nicht.

Im Februar 2021, das Virus war inmitten seiner zweiten großen Wintertournee, erschien bei Capybarabooks Paul Rauchs’ Virons le virus – Essai de journal (dé)confiné. Der Autor, freier Mitarbeiter des Land, baut einige seiner veröffentlichten Artikel hier aus. Die Sprache, die Wortspiele und der Tonfall sitzen : „Le confinement, à ses débuts au moins, est allergique au silence et bruit de cent cris et de mille bruits, d’intox, d’infox et d’infodémie qui cherchent à faire taire le virus qui pourtant se terre dans le silence. Comme s’il fallait opposer un contrepoint à l’inaudibilité et l’invisibilité du microbe.“ Auch nimmt Rauchs sich weniger ernst als Carré: „Et comme il vit le confinement comme une répétition générale de sa retraite (..) Yvan prend le temps de la lecture.“ Schon heute wirken diese beiden Werke dennoch weniger wie Literatur, mehr wie Zeitdokumente.

Schließlich veröffentlichte der Verlag Kremart nach Tania Naskandy alias Guy Rewenigs Haiku-Sammlung da ist was im busch und Laurent Moyses La vie trépidante du confiné diesen April ihr drittes „Corona-Buch“, Teschent den Zeilen von Jhemp Hoscheit. Hoscheit, der bisher bei Éditions Guy Binsfeld publizierte, unterbreitet die Geschichte der Familie Gelser während des ersten Lockdown. Mutter Manon ist Versicherungskauffrau und Ehebrecherin, Vater Laurent arbeitet als Schriftsteller. Lena, die gelangweilte Teenager-Tochter, hängt dauernd nur am Handy. Klassische, souverän geschriebene Luxemburgensia mit Covid-Einschlag, die auch die Impfgegner-Demos und die eigene Position thematisiert. Ein Verschwörungstheoretiker entgegnet dem fiktiven Schriftsteller Laurent Gelser: „Där setzt Iech guer net mat der haiteger Realitéit auserneen. Ass et ze vill verlaangt, wann e Schrëftsteller sech och mol mat der Aktualitéit beschäftegt an déi aktuell Situatioun a säi Schreiwe matbezitt? Oder sidd Där sou weltfriem?“ Ein Gefühl der Überdrüssigkeit schleicht sich bei der Lektüre ein, ein Nicht-schon-wieder.

Einen außerordentlichen Einschnitt in ihr Leben dürfte die Pandemie für diese Autoren nicht bedeutet haben. Man darf annehmen, dass die – mit Verlaub – eher älteren Autoren auch vorher Zeit und Raum hatten, ihren Gedanken nachzugehen und sie aufzuschreiben, sind sie doch bis auf Moyse allesamt in Rente. Darin liegt kein Vorwurf – allerdings führt das im Umkehrschluss auch zu einer eher hermetischen Buchlandschaft.

Die alltägliche Häuslichkeit des Lebens findet sich in abgeänderter Form auch im Werk von Karl Ove Knausgård wieder, jenem brillanten Norweger Autor der sich mit seinem 3 600 Seiten Epos Min Kamp feministischer Kritik ausgesetzt sah. Ob jemand diese banale Alltäglichkeit in weiblichem Schreiben dulden würde, ob es dafür ein so großes Publikum gäbe, war die Frage. „Covid-Literatur“ von Autorinnen sucht man hierzulande bisher jedenfalls vergeblich. Vielleicht findet man literarische Qualitäten in nächtlichen WhatsApp-Nachrichten an Freundinnen, waren viele Frauen doch tagsüber zu sehr damit beschäftigt, Homeoffice, Homeschooling und Homecooking unter einen überdimensional großen Hut zu bringen.

Manuskripte zum Thema Corona in Tagebuch-Form haben die Luxemburger Verlage trotzdem zuhauf bekommen, es gab viele, die plötzlich Zeit zum Schreiben hatten. „Wir haben die eigentlich immer ziemlich schnell abgelehnt. Es gibt wirklich wenig, was langweiliger ist, als ein Corona-Tagebuch, da es oft von erschreckender Banalität ist“, sagt Ian de Toffoli, Verleger bei Hydre Éditions. Schlimm seien jene gewesen, die sich auf ironisch-süffisante, moralisch überlegene Manier über die Toilettenpapier-Hamsterer lustig gemacht haben. Andere schlimme Fälle seien jene gewesen, die beschlossen hätten, das Problem, das unsere Demokratie gerade erlebe, jetzt in ihrem neuen politisch-philosophischen Manifest festzuhalten. „Für mich war klar, dass richtige Romane, die einen aus der Realität herausnehmen, viel interessanter sind.“

Auch Éditions Guy Binsfeld entschied sich gegen die Veröffentlichung einer offensichtlichen Corona-Chronik. „Das war eine bewusste Entscheidung, da uns die subtileren Verarbeitungen mehr interessieren“, sagt Inge Orlowski, Verlegerin. Wenn die Qualität es hergegeben hätte, hätte sie sich überzeugen lassen. Sie glaube allerdings, den nächsten Corona-Roman erwarte gerade niemand mit allzu großer Spannung.

Eine Ausnahme aufgrund der Qualität hätten dann auch Roland Kayser von Éditions Phi und Susanne Jaspers von Capybarabooks für ihre jeweiligen Bücher von Gaston Carré und Paul Rauchs gemacht. „In einem literarischen Kontext ist die Tagebuch-Form schon eher einengend, vor allem wenn es sich um persönliche Lamentationen gehandelt hat“, sagt Roland Kayser. Einen Verkaufswert habe das Buch sowieso nur in der unmittelbaren Pandemie-Zeit. Momentan sei es ruhig, was die Einsendungen angeht, in denen Corona die zentrale Rolle spielt, sagt Susanne Jaspers. Das Virus käme aber in fast allen literarischen Manuskript-Einsendungen am Rande vor, quasi als zeitliche Verortung, so die Verlegerin.

Jeder historische Umbruch bringt unmittelbare Chroniken von Literaten und Nicht-Schreibenden hervor, denn das In-Worte-Fassen kann therapeutisch wirken. François Henckes, Steinmetz bei der Bahn, nutzte den Beginn des ersten Weltkrieges, um damit zu beginnen, seinen Alltag niederzuschreiben, in dem der Krieg und die mit ihm einhergehende Hungersnot eine immer größere Rolle spielten (d’Land, 28.11.2014). Unter jenen Luxemburgern, die 1943 ins Lager Schreckenstein zwangsumgesiedelt wurden, war etwa Victor Molitor, der seine Erfahrungen der Fremde und den Verlust der Heimat in Glanz im Gewitter – Gedichte aus der Umsiedlung und dem Krieg (1946) festhielt: „Wir treiben immer weiter dunkelwärts/ Und schwere Traurigkeiten mit uns gehn/ Wie Schatten beugen sich über den Schmerz /Wann werden wir dich, Heimat, wiedersehn?“ Auch Jean Proess veröffentlichte Ende 1945 eine Verarbeitung seiner Umsiedlung unter dem Titel Schreckensténer Visio’nen – d’Liewen an der Déportation. Diese Erinnerungsliteratur ist in Vergessenheit geraten, ebenso wie die frühe KZ-Literatur, die in Luxemburg bereits 1945-46 elf literarische Einzelpublikationen umfasste, in der sich rückkehrende KZ-Häftlinge wie Jean Zenner, Pierre Biermann und Joseph Schneider mit ihrem Schicksal auseinandersetzten. Auch hier findet man sowohl den Drang wieder, das eigene Leiden festzuhalten, aber auch Eskapismus und Überdrüssigkeit. Emil Schaus, späterer Minister, brachte seinen autobiographisch geprägten KZ-Roman Auf der Galeere erst 1982 heraus, doch „nach dem Krieg zunächst Werke, die vom Eskapismus geprägt waren (..) und die die vermeintlich heile Welt der Vorkriegszeit wieder aufleben ließen.“ 1

Die Boomer ebenso wie die Millennials, aufgewachsen ohne die großen Umbrüche der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hatten vor Covid die Tendenz, Unverständnis aufzubringen für die in ihren Augen verlogene Kriegsgeneration, die sich einer tiefen Aufarbeitung des Erlebten Jahrzehnte lang verwehrte. Vielleicht versteht man nun ein wenig besser, wieso sie zum Teil zeitversetzt einsetzt, warum die menschliche Psyche, und die Gesellschaft als Ganzes erst verdrängen, ein Nachdenken darüber ablehnen um wieder im Hier und Jetzt anzukommen. Bis sich ein bekannter amerikanischer Autor namens Jonathan Safran Foer an eine Fiktionalisierung von 9/11 herantraute, dauerte es vier Jahre.

1 Sandra Schmit, „Die Luxemburger KZ-Literatur der unmittelbaren Nachkriegszeit“ in: Luxemburg und der Zweite Weltkrieg – Literarisch-intelektuelles Leben zwischen Machtergreifung und Epuration, S.482/483

Sarah Pepin
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