Videokunst kann ermüden, insbesondere im Theater scheint das Medium samt seiner Effekte erschöpft. Eine Ausstellung über Videokunst lässt einen also nicht unbedingt aufhorchen, doch setzt sich das Werk des belgischen Künstlers David Claerbout einfach darüber hinweg – und das mit wirklich großer Wirkung.
Claerbout selbst sieht sich dabei gar nicht als Videokünstler, sondern spricht davon, „alles zerlegen zu müssen“ (Monopol-Magazin vom 10.10.2025). In seinem Werk erforsche er die Zeit, so der Künstler, der sich seit vier Jahrzehnten an der Schnittstelle von Fotografie und Film bewegt.
Geboren 1969 in Kortrij lebt und arbeitet Claerbout in Antwerpen. Seit seinem Abschluss am Nationaal hoger Instituut voor schone Kunsten entwickelt er einen selbstreflexiven Ansatz für die Produktion, Präsentation und Wahrnehmung von Bildern. Sein Interesse am Menschlichen im Technologischen und umgekehrt zieht sich durch sein Schaffen und prägt seine Bilder, Filme, Installationen und Zeichnungen. Claerbouts wesentlicher Zugang gilt, fast hundert Jahre nachdem Walter Benjamin über Das Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit (1936) reflektierte, der Art und Weise, wie der Mensch Bilder wahrnimmt und in welcher nicht oder doch vorbestimmten Abfolge – und wie dadurch seine Wirklichkeit strukturiert wird.
Herzstück der Ausstellung: The woodcarver and the forest (2025)
Seine erste umfassende Einzel-Ausstellung in Luxemburg, Five Hours, Fifty Days, Fifty Years, bietet einen konzentrierten Überblick über Claerbouts Werk und umfasst sowohl frühe wie auch aktuelle Arbeiten. Die eindrucksvolle Schau, kuratiert von Christian Mosar, mit Ory Dessau als Gast-Kurator und assistiert durch Charlotte Masse, erstreckt sich derzeit über die gesamten Räumlichkeiten der Konschthal.
Sein neues filmisches Werk The woodcarver and the forest (2025) ist als Herzstück der Schau im zweiten Stock der Escher Konschthal zu sehen. Es handelt sich um eine Filminstallation, die das unbarmherzige Vorrücken einer Abholzungsmaschine thematisiert, getarnt als achtsame und angenehme Meditationsszene, die auf mehrere Jahre vorprogrammiert ist.
In dieser Zeitspanne wird der Wald, der die neo-brutalistische Villa des Holzschnitzers umgibt, nach und nach gerodet, da die Bäume für die Herstellung der Holzgegenstände benötigt werden. Doch die Szenerie, die Claerbout zeigt, ist kein düsteres Panorama, sondern ein ästhetisch berauschendes Sinneserlebnis. Die Zuschauer/innen können sich in Sitzkissen am Boden fläzen und paradoxerweise in die Abholzung des Waldes eintauchen, indem sie die kontemplative Arbeit des Holzschnitters verfolgen. Das Betrachten hat so selbst etwas Kontemplatives; unklar bleibt, welche Zeitspanne dabei beobachtet wird.
Dass Claerbouts Kunstwerke klug mit Sinnestäuschungen spielen, wird bereits im Erdgeschoss deutlich.
Bild, Nicht-Bild, verbranntes Bild: Wildfire (2019-2020)
So etwa in Wildfire (2019-2020), eine 3-D-Aufnahme, die eine Plansequenz durch eine Wiese vor einem Wald zwischen den dort wachsenden Bäumen nachstellt. Schlagartig verwandelt sich die Szene in ein stilles, höllisches Ereignis: Ein Feuer verschlingt den Wald und verwüstet alles unter Flammen und Rauchschwaden, die in den Himmel steigen.
Die simulierte Bewegung der Kamera wird durch das Feuer nicht unterbrochen, was deutlich macht, dass weder eine echte Kamera noch ein Fotograf an der Entstehung des Films beteiligt sind. Das Fehlen eines physischen menschlichen Faktors entspricht dem Inhalt – einer Situation, in der alles Leben ausgelöscht ist – sowie dem leblosen, nicht-sensorischen Aspekt der digitalen Technologie, mit der das Video realisiert wurde.
Mit Wildfire bewertet Claerbout die Kamera neu, präsentiert so sein Feld der Dark Optics. Obwohl Waldbrände in der Regel spontan ausbrechen, handelt es sich dabei nicht um einfache Naturkatastrophen, sondern um die Folge einer Reihe von Kettenreaktionen, die durch menschliche Aktivitäten beschleunigt werden. „Das Feuer in Wildfire ist sowohl ein Bild als auch ein Nicht-Bild, ein verbranntes Bild“, so Kurator Ory Dessau. Denn hier werde Licht nicht als Träger einer gespiegelten visuellen Information verwendet, sondern als Objekt und Bild an sich.
Wo Tiere wieder Tiere sein dürfen: The pure necessity (2016)
Im ersten Stock können sich die Besucher/innen in Kissen am Boden legen und in das Dschungelbuch eintauchen. – Auch das eine optische Täuschung! Denn mit The pure necessity (2016) hat Claerbout zwar auf die Bildsprache des Dschungelbuchs (Disneyfilm 1967, beruhend auf Rudyard Kiplings Buch von 1894) zurückgegriffen, dieses jedoch stark verfremdet. Streng genommen übernimmt sein Werk nicht die visuelle Sprache Disneys, sondern „restauriert“ sie gewissermaßen.
Die Hauptfigur, Mowgli, taucht in seinem Werk nicht mehr auf. Stattdessen scheinen die Tiere auf ihr ursprüngliches Sein zurückgeworfen und dürfen nach ihrer Rolle im Disneyfilm wieder sie selbst sein. Träge und verlangsamt wie Staatsbeamte, die seit 30 Jahren dieselben Handgriffe verrichten, bewegen sie sich durch eine Dschungelwelt, die ohne die Laune machenden Disney-Sound fast leer wirkt. Ist dies das wirkliche Leben?
Hommage an Truffaut: The Close (2022)
Als Hommage an den Film Noir, insbesondere an Truffaut erweist sich das Video The Close im ersten Stock der Konschthal. Der Titel des Werks erinnert an eine Sackgasse, eine ausweglose Situation. Teilweise inspiriert an den urbanen Symphoniefilmen des frühen 20. Jahrhunderts und dem neorealistischen Kino der 1940er Jahre, stützt sich diese Arbeit auf Fundstücke aus den 1920er Jahren und deren 3D-Rekonstruktion.
Der Kopf eines Jungen kommt dem Betrachter bei genauem Hinsehen immer näher und verändert sich sukzessive, bis er seltsam entrückt wirkt.
An dem Werk lässt sich exemplarisch Claerbouts Technik der allmählichen Nahaufnahme und des Heran- und Hinauszoomens nachvollziehen. Er konzentriert sich in The Close auf die Gestalt eines Kindes und beendet die Arbeit mit einer verräumlichten Stadtaufnahme, womit das Werk an die Schlussszene von François Truffauts Filmklassiker Les 400 coups erinnert. In der letzten Sequenz flieht Antoine aus dem Erziehungsheim, in das er gesteckt wurde, und läuft davon, bis er den Strand erreicht. Während er das Wasser erreicht, blickt er sich noch einmal um und sein Blick erstarrt zum Standbild in Ewigkeit.
Albert Speer ausgehebelt: Olympia (2016)
Im letzten Stockwerk der Konschthal beeindruckt der Film Olympia [The real time disintegration into ruins of the Berlin Olympic stadium over the course of a thousand years]. Das Werk ist eine computergestützte Rekonstruktion des Berliner Olympiastadions, das Werner March einst für die Olympischen Spiele 1936 in Berlin entwarf. Claerbout zeigt ein Echtzeit-Bild des Gebäudes ohne Einsatz einer Kamera, doch mittels Umsetzung von Daten des dort in Echtzeit herrschenden Wetters, des Lichteinfalls, des Zustandes der Vegetation, und zwar so programmiert, dass es tausend Jahre hält und unablässig weiterläuft, auch wenn es nicht präsentiert wird.
Das Vorhaben, Olympia solle eintausend Jahre halten, ist eine Anspielung auf das „Tausendjährige Reich“ der deutschen Nationalsozialisten. Die Virtualisierung des Bauwerks beruhend auf Echtzeit-Daten, die Wahrheit und Fälschung, Faktualität und Fiktion verweben, verweist so auf das grundlegende nationalsozialistische Anliegen des Bauwerks. „Somit erweist sich Olympia als ein reinigendes Ritual, ein vorprogrammiertes Szenario, nach dem das Bauwerk leer und unbelebt bleiben muss, und zwar für ebenso lange wie die damals angestrebte Lebensdauer des „Dritten Reiches“, um die NS-Dämonen des Bauwerks zu exorzieren“, so Ori Dessau in dem aufschlussreichen begleitenden Band*.
Aus dem Alltag einer Reinigungskraft: Sunrise (2009)
Der Videofilm Sunrise wirkt vor allem, weil er den Alltag einer Arbeiterin ästhetisch stark einfängt. Früh am Morgen, wenn es draußen noch dunkel ist, bereitet eine Hausangestellte das Haus auf einen neuen Tag vor. Sobald sie ihre Arbeit beendet hat, verlässt sie das noch schlafende Haus, steckt sich eine Zigarette an, schließt die Tür und fährt mit dem Fahrrad davon. Zu den Klängen von Rachmaninows Vocalise taucht sie in das Morgenlicht ein.
Die Kamera nutzt den Funktionalismus der Architektur, um die Choreografie der Bewegungen der Hausangestellten zwischen Flächen und Linien „einzufangen“; eine Form, die laut Claerbout im gesamten ersten Teil des Films dominiere.
„Die Ausstellung ist ein Experiment, und ich bin mir völlig im Klaren darüber, dass dieses Experiment auch scheitern kann“, so Claerbout im Interview mit der Kunstzeitschrift Monopol (10.10. 2025).
Claerbouts erste Einzelausstellung in Luxemburg erweist sich als gelungenes Experiment.
In einer Welt flimmernder Bilder, die via Selfies auf Unmittelbarkeit aus ist, um mitzuteilen: es gibt mich in einer vermeintlich eindeutigen, irgendwie zeitenthobenen Existenz, setzt David Claerbouts Werkschau in der Konschthal einen dennoch technischen Kontrapunkt. Dich bzw. Deine Welt-Anschauung gibt es weder als lineares Ergebnis einer logischen Abfolge noch als voraussetzungsloses unmittelbares Erlebnis.