Gespräch zur Gemeindefinanzreform mit Émile Eicher (CSV), député-maire aus Clerf und Präsident des Gemeindeverbands Syvicol

„Wir dürfen niemanden bestrafen“

d'Lëtzebuerger Land vom 22.07.2016

d’Lëtzebuerger Land: Herr Eicher, der Innenminister sagt, seine Gemeindefinanzreform sorge für mehr Gerechtigkeit unter den Gemeinden. Tut sie das?

Émile Eicher: Dan Kersch sagt auch, absolute Gerechtigkeit könne es nicht geben. Dem stimme ich zu. Es gibt viele Stellschrauben, an denen man drehen kann. Verlierer gibt es dabei immer. Und wer verliert, fragt sich: Wieso ich?

Für ein wenig mehr Gerechtigkeit sorgt die Reform also?

Ich kann darauf nicht im Namen des Syvicol antworten. Unsere Position steht noch nicht fest. Wir warten den Gesetzentwurf ab, bisher gibt es nur einen Vorentwurf. Ich meine, es ist eine Umverteilungsreform. Die nicht zweckgebundenen Einnahmen von 74 der 105 Gemeinden sollen steigen, 31 Gemeinden sollen etwas abgeben. Ein Bonbon enthält die Reform für bevölkerungsreiche Gemeinden, die in der Vergangenheit schlecht wegkamen.

Der Minister sagt, „das Geld soll dahin, wo die Leute wohnen“. Das scheint zum Ansatz der Regierung in der Landesplanung zu passen, den Bevölkerungszuwachs in die Stadtgemeinden zu kanalisieren und diese Gemeinden generell zu stärken.

Die Landesplanung spielt eine Rolle. Aber schon heute ist die Einwohnerzahl das wichtigste Kriterium zur Umverteilung der Gemeindefinanzen. In Zukunft soll es noch wichtiger werden. Obendrein soll das Kriterium „Bevölkerungsdichte“ noch stärker ins Gewicht fallen. Das gefällt mir nicht, das wird vor allem Landgemeinden mit großer Fläche benachteiligen.

Laut Innenministerium haben „Flächengemeinden“ wie Wincrange wesentlich höhere Pro-Kopf-Einnahmen als zum Beispiel Wiltz, Echternach oder Kayl.

Nach der geplanten Übergangszeit würde Wincrange ab 2022 gegenüber heute schätzungsweise 17 Prozent seiner Einnahmen einbüßen, Weiswampach 19,5 Prozent. Es gibt aber auch flächenmäßig große Stadtgemeinden, Sassenheim zum Beispiel. Die trifft die Reform in dem Punkt auch, wenngleich nicht so stark. Bisher erkennt der Umverteilungsmechanismus an, dass Flächengemeinden relativ hohe Infrastrukturkosten haben. Wird in Luxemburg-Stadt ein Apartmenthaus mit mehreren Wohnungen gebaut, muss dorthin ein einziger Wasseranschluss gelegt werden. Werden in einer Flächen-Landgemeinde Einfamilienhäuser gebaut, ist jedes Mal ein Anschluss für eine Familie nötig und die zu überbrückenden Entfernungen können groß sein. Auch der Schülertransport kommt die großen Landgemeinden teuer zu stehen. Deshalb werden im aktuellen System 9,75 Prozent der Zuwendungen aus dem staatlichen Gemeinde-Dotationsfonds nach der Fläche zugewiesen. Dadurch wird der Faktor Einwohnerzahl für die dünn besiedelten Gemeinden zum Teil berichtigt. Dagegen soll es nach der Reform fünf Prozent mehr beziehungsweise fünf Prozent weniger geben, je nachdem ob die Bevölkerungsdichte über oder unter 2 000 Einwohner pro Quadratkilometer beträgt. Das ist ein Kriterium, das meiner Meinung nach bestrafend wirkt und das ich nicht verstehe.

Laut Innenministerium verfügen Wincrange, Weiswampach oder Tandel über Pro-Kopf-Einnahmen von mehr als 2 999 Euro und fallen damit in dieselbe Kategorie wie Betzdorf oder Niederanven. Städte wie Wiltz und Echternach dagegen kommen nicht über 1 999 Euro pro Kopf hinaus.

Sie gehören zu den bevölkerungsreicheren Gemeinden, die derzeit benachteiligt sind. Sie besser zu stellen, finde ich in Ordnung. Es kann auch sein, dass manche Landgemeinden bisher zu viel erhalten haben. Darüber kann man diskutieren. Aber man darf nicht ins andere Extrem fallen und die Landgemeinden bestrafen. Mit 17 Prozent weniger Einnahmen gestaltet man nicht mehr, da managt man nur noch und macht das Nötigste.

Vielleicht will die Regierung zu Fusionen anreizen.

Ich bin ein Verfechter von Fusionen, doch es ist nicht so, dass eine reiche Gemeinde entsteht, wenn zwei oder drei arme fusionieren. Fusionen kosten immer und sind aufwändig. Man darf auch nicht hoffen, dass schlechter gestellte Gemeinden stärker mit anderen zusammenarbeiten. Vielmehr ist dann jede sich selbst die Nächste.

Wie hat denn der Syvicol mit dem Innenminister diskutiert? Ihr Verband bekam den Reformvorschlag ja vorgestellt.

Es gab vier Versammlungen mit Dan Kersch. Aber da ging es eher um technische Fragen, da wurden nur Arbeitspapiere vorgestellt. Auch der parlamentarische Innenausschuss bekam noch nicht mehr Informationen. Wir warten jetzt auf den Gesetzentwurf, auf dem wir agieren können. Arbeitspapiere reichen nicht.

Bessergestellt werden soll auch Ihre Gemeinde. Nach dem, was Dan Kersch publik gemacht hat, sollen nur die Hauptstadt und Esch-Alzette nach der Reform über mehr als 2 999 Euro pro Kopf verfügen. Danach würden, mit 2 750 bis 2 999 Euro pro Kopf, Redingen, Grevenmacher und Clerf folgen. Die hundert anderen würden in zwei große Gruppen von 2 250 bis 2 499 und 2 500 bis 2 749 Pro-Kopf-Euro fallen. Welche besondere Rolle soll Clerf spielen?

Das weiß ich nicht. Und ich rede nicht pro domo. In den Zahlen spiegelt sich der „CDA-Effekt“ wider. 2003 hatte die Landesplanung 14 CDA, Centres de développement et d’attraction, festgehalten, die besonders entwickelt werden sollen. Darunter Luxemburg-Stadt als Hauptstadt, Esch-Alzette als „Oberzentrum“ und 12 weitere Gemeinden, in erster Linie die traditionellen Kantonal-Hauptorte. Darauf kommt die Reform zurück: Luxemburg-Stadt soll bei der Berechnung seiner Zuwendungen die Einwohnerzahl von Amts wegen um 45 Prozent erhöht erhalten, Esch-Alzette seine um 25 Prozent. Für die anderen 12 CDA sollen fünf Prozent zusätzlicher Wichtungsfaktor gelten. Ich bin mir aber gar nicht sicher, ob der CDA-Ansatz noch richtig ist.

Warum?

Weil viele Nicht-CDA-Gemeinden stark gewachsen sind und längst nicht alle CDA eine besondere Rolle spielen. Die alten Kantone sind überholt. Auch früher haben sie administrativ keine große Rolle gespielt.

Was nicht ausschließt, dass man diesen Gemeinden eine stärkere Rolle zuweist.

Einverstanden, aber diese Rolle ist nirgends definiert. Es soll dafür mehr Geld fließen, aber es ist nicht klar, wieso.

Es fällt auch auf, dass zum Beispiel Differdingen als drittgrößte Stadt und CDA nicht mehr Geld pro Kopf erhalten soll als alle anderen Südgemeinden, geschweige so viel wie Esch. Und weniger als zum Beispiel Clerf.

Stimmt. Noch gravierender finde ich, dass Sassenheim, auf dessen Territorium fast 80 Prozent von Belval fallen, ebenfalls nicht besser wegkommen soll. Man kann natürlich sagen, Esch hat ein Theater, ein Konservatorium, ein großes Krankenhaus und so weiter. Genauso gut aber kann man anführen, dass sämtliche Südgemeinden Mitglied im Transportsyndikat Tice sind, das den öffentlichen Transport bis hin zum Schülertransport im Süden absichert. Führt man diesen Gedanken fort, könnte man sagen, alle Gelder, die man damit begründet, dass eine Gemeinde diese oder jene Einrichtung hat, nehmen wir aus der Finanzierung mal raus. Denn: Bei der Finanzreform und bei der Umverteilung der Gewerbesteuer und des staatlichen Gemeinde-Dotationsfonds geht es um nicht zweckgebundene Einnahmen. Wir begründen aber einen großen Teil dieser eigentlich nicht zweckgebundenen Einnahmen mit der „besonderen Rolle“ bestimmter Gemeinden. Wir geben ihnen also eine Art Zweckbindung, ohne dass die geklärt wäre.

Konnte Dan Kersch das erläutern?

Darüber haben wir mit ihm nicht gesprochen. Wir reden darüber verbandsintern. Vielleicht reden auch die politischen Parteien darüber, denn das ist eine politische Frage.

Das erinnert mich an Michel Wolter, der als Innenminister der CSV-DP-Regierung eine große Debatte über die „Neuaufteilung der Kompetenzen von Staat und Gemeinden“ führen wollte. Nach jahrelanger Vorarbeit endete die große Debatte im Parlament im Herbst 2003 mit einem Entschließungsantrag an die Regierung, dass es nun aber an der Zeit sei, über die Neuaufteilung der Kompetenzen zu reden. Alle Parteien hatten in „ihren“ Gemeinden etwas zu verlieren und zogen am Ende vor, alles zu lassen wie es war.

Das ist ein Work in progress. Als Syvicol gaben wir 2013 eine Studie in Auftrag, um zu sehen, wie große, mittlere und kleine Gemeinden sich in ihren Ausgaben im Vergleich zu anderen mit vergleichbarer Größe verhalten. Wir meinten, ein Überblick über die Ausgaben wäre eine wichtige Vorbedingung, um die Frage nach den Missionen der Gemeinden beantworten zu können. Die Studie ergab zum Teil Erstaunliches. In allen drei Größenkategorien gab es in den einzelnen Ausgabenbereichen Spitzen nach oben und unten. Es wurde offenbar ganz unterschiedlich gebucht. Zum Beispiel verbuchten manche Gemeinden den Schülertransport als Transportausgabe, andere als Schulausgabe, wiederum andere als Sozialausgabe. Damit fing das Problem an: Es gab gar keine zuverlässigen Daten, um sagen zu können, in den Gemeinden ist der und der Bedarf zu finanzieren. Gut ist, dass seit drei Jahren klarere Regeln für die Gemeindebuchhaltung gelten. Dadurch verfügt das Innenministerium nun über Basisdaten zu den kommunalen Ausgaben. Wir wären extrem froh, wenn der Syvicol sie ebenfalls bekäme. Dann könnten wir berechnen, was geschieht, wenn man an Finanzierungsschrauben dreht. Mit dem, was wir haben, können wir das nicht. Wir können nur zuhören und glauben, was man uns erzählt.

Was wollen wohl die Bürger? Wollen sie einen Gemeindesektor, der, zugespitzt formuliert, überall dieselben Leistungen anbietet, oder Vielfalt? Und wären sie womöglich an fiskalischer Vielfalt interessiert? In dem Sinne, dass jede Gemeinde für ihre Einnahmen stärker selber sorgt? Woraus sich dann vielleicht ein dynamischerer Gemeindesektor ergäbe, die Gemeindepolitik aber auch politisch geradestehen müsste für ihre Fiskalentscheidungen?

Das sind für mich zwei Fragen. Erstens: Können wir es uns leisten, überall dasselbe anzubieten? Ich meine, nein. Man sollte besser die Köpfe zusammenstecken und gemeinsam nach Lösungen suchen. In Clerf haben wir unser Schwimmbad geschlossen, als das in Hosingen in Betrieb ging. Man müsste regional entscheiden, wer was macht. Was für mich keine Einschränkung der kommunalen Autonomie ist.

Dagegen sieht es so aus, als würden die Gemeinden durch die Finanzreform an Autonomie verlieren. Die kommunale Gewerbesteuer und der staatliche Gemeinde-Dotationsfonds sollen in einen einzigen Topf fließen und einheitlich umverteilt werden. Das macht die Gemeinden noch abhängiger vom Staat. Aber vielleicht fühlen sich viele dabei ganz wohl?

Man kann in dem Zusammenhang auch fragen, ob es gerecht ist, wenn in Zukunft noch stärker umverteilt werden soll. Denn zur Gemeindeautonomie gehören eigentlich auch eigene Einnahmen. In dem Punkt besteht zurzeit eine Scheinautonomie. Welche Gemeinde kann schon so große Gewerbegebiete anlegen wie Leudelingen, um Betriebe aus der Hauptstadt fortzulocken und so das lokale Gewerbesteueraufkommen zu steigern? Zumal die Landesplanung mit kommunalen Gewerbegebieten weitgehend Schluss machen will. Da bleibt als autonome Einnahmequelle nur die Grundsteuer. Würde sie reformiert, könnte das den Gemeinden zu deutlich mehr Einnahmen verhelfen, die nicht umverteilt werden. Die Diskussionen darüber kommen aber leider nicht so voran, wie man sich das wünschen könnte.

Der Innenminister hat gesagt, die Neufestsetzung der Einheitswerte der Immobilien sei zu aufwändig.

Was soll ich dazu sagen? Jeder weiß, dass die Einheitswerte aus den Vierzigerjahren stammen. Dass es aufwändig ist, sie neu festzulegen, ist keine neue Erkenntnis.

Gegenüber der Presse hat Dan Kersch gesagt, die Gemeinden könnten ihre lokalen Grundsteuer-Hebesätze erhöhen. Heute haben einige Gemeinden Hebesätze von 1 000 Prozent, nehmen aber dadurch nicht viel mehr ein. Können Sie sich vorstellen, dass eine Gemeinde ihren Hebesatz auf 10 000 Prozent steigert?

Absolut nicht. Wenn die Werte an der Basis schlecht sind, schafft man mit Sicherheit Ungerechtigkeiten, wenn man sie mit 10 000 Prozent multipliziert.

Ist in der Gemeindefinanzreform die Steuerreform berücksichtigt? Der Mehrjahreshaushalt des Staates 2016 bis 2019 geht sowohl von wachsenden Gewerbesteuereinnahmen aus als auch von einem größer werdenden Gemeinde-Dotationsfonds, der anteilig aus den Mehrwerts-, Einkommens- und Autosteuereinnahmen des Staates gespeist wird. Aber vielleicht ändert sich das ja mit der Steuerreform?

Das war eine der ersten Fragen, die wir gestellt haben. Richtig berücksichtigt ist sie nicht. 18 Prozent des Dotationsfonds hängen an der Einkommenssteuer, und die soll sinken. Da fragt sich, ob unsere Wirtschaft schnell genug wächst, damit die Zunahme der Lohnmasse den Einkommenssteuerausfall kompensiert. Andererseits wächst mit den Steuererleichterungen die Kaufkraft, was für höhere Mehrwertsteuereinnahmen sorgen dürfte. Wenngleich das den Gemeinden nur begrenzt zugute kommt: Die Mehreinnahmen aus der zweiprozentigen TVA-Erhöhung seit 2015 fließen komplett in die Finanzierung der Rettungsdienste und wir bekommen nur die Hälfte dieser Summe als schon geleisteten Beitrag zu den Rettungsdiensten gutgeschrieben. Insgesamt wird das Mehrwertsteueraufkommen wohl wachsen. Aber unter dem Strich ist die Gemeindefinanzreform auch eine Wette auf die Konjunktur.

Dan Kersch hat gesagt, der Gemeindesektor erhalte zusätzliche Mittel dadurch, dass der Staat die Grundschullehrergehälter künftig vollständig selber bezahlt, die Gemeinden im Gegenzug den Arbeitgeberbeitrag zur Rentenkasse der Gemeindebediensteten übernehmen. Nächstes Jahr soll das den Gemeindesektor um Ausgaben von 90 Millionen Euro entlasten. Viel ist das nicht, angesichts nicht zweckgebundener Einnahmen der Gemeinden von insgesamt fast 1,8 Milliarden.

Trotzdem ist das eine ganz wichtige Geste. Denn es gibt andere Reformen, die die Gemeinden Geld kosten. Ohne die 90 Millionen Euro wäre die Gemeindefinanzreform undenkbar. Und ich meine, sie wird sicherlich nicht die letzte sein.

Peter Feist
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