Über dünnes Eis

 

ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

d'Lëtzebuerger Land vom 10.06.2022

Umweltministerin Carole Dieschbourg zu ersetzen, war mühselig. Manche Politikerinnen sagten aus privaten Gründen ab. Andere kamen aus taktischen Gründen nicht in Frage. Den Übriggebliebenen traute die Partei kein Ministeramt zu. Die Parteispitze einigte sich auf eine Beamtin ohne Partei und Mandat, Joëlle Welfring.
Bei den Wahlen von 2018 verloren DP und LSAP vier Mandate. Die Grünen gewannen drei hinzu. Die Koalition behielt ihre parlamentarische Mehrheit. So retteten die Grünen die Koalition. Sie vereitelten die Rückkehr der CSV. Bei den Koalitionsverhandlungen erinnerten sie DP und LSAP daran. Die Regierung wurde vergrößert, damit sie anderthalb Minister mehr bekamen.
Die Regierungsmehrheit hängt von einem Parlamentssitz ab. Das macht sie erpressbar. Sie muss eiserne Disziplin üben: Kein einziger Abgeordneter darf aus der Reihe tanzen. Seit vier Jahren träumt die CSV von den Mätzchen eines Linkssozialisten, einer Altliberalen, eines Fundi.
Aus den Rettern der Koalition ist ihre Achillesferse geworden. Am delikatesten ist die Lage in den zwei großen Wahlbezirken. Dort darf kein grüner Abgeordneter aus sittlichen, gesundheitlichen oder anderen Ursachen zurücktreten. Sonst droht der Koalition das Aus.
Das politische Personal hadert mit dem Schicksalhaften der Staatsraison. Tritt ein Zentrumsabgeordneter der Grünen zurück, kann der Achtgewählte, Paul Polfer, nachrücken. Der Koordinator des Klimabündnisses hat inzwischen die Partei verlassen. Rückt er nach, hängt von seiner Stimme die Regierungsmehrheit ab. Er kann die Mehrheit unter Druck setzen. Etwa um den Klimaschutz zu verstärken. Das würden die DP-nahen Unternehmer missbilligen.
Tritt eine Südabgeordnete der Grünen zurück, kann der ehemalige Justizminister Felix Braz ins Parlament nachrücken. Nach seinem Schlaganfall beschlossen die Grünen seine ehrenvolle Entlassung. Nun fühlt er sich verraten. Rückt er nach, hält die Regierungsmehrheit so lange, bis ihm nach Revanche zumute ist.
Über dünnes Eis stakst die Koalition bis zu den Wahlen. Inmitten von Covid-Seuche, Ukraine-Krieg und Indexmanipulation. Ihr Los erinnert an das ihrer Väter in den Siebzigerjahren. DP und LSAP hatten
31 von 59 Mandaten. In der Stahlkrise nannten sie ihre historische Berufung „Krisenmanagement“. Auch sie waren ihrer Mehrheit nicht sicher: In der LSAP scherte sich Zwangsrekrutiertenanwalt Jean Gremling wenig um die Parteilinie. Bei der DP rückte ein Jahr vor den Wahlen der allzu fromme Versicherungsdirektor Alain Schaack nach.
Verlöre die Koalition ihre Mehrheit, bräuchte sie nicht die Hoffnung zu verlieren. Sven Clements Piratenpartei erhielt viele Proteststimmen aus subalternen Klassen. Aber sie vertritt liberale Ansichten. Clement gibt sich salbungsvoll und staatstragend. Er bescheinigt sich „konstruktive Opposition“. Er ist koalitionskompatibel. Die Koalition schont ihn. Die Presse hilft ihm.
Derzeit sind die Piraten gegen Impfzwang und Indexmanipulation. Nicht aus Überzeugung, sondern aus Opportunismus. Folglich schmerzte es sie nicht, morgen dafür zu sein. Die Piratinnen wollen die Erfolgsgeschichte der Grünen wiederholen. Nur ungeduldiger und prinzipienloser. Sie glauben sich nah am Ziel.
RTL und Luxemburger Wort kaufen bei TNS-Ilres Meinungsumfragen über den Parteienwettbewerb. In einer nationalen Beliebtheitsskala stellten sie Sven Clement auf Platz vier: beliebter als 14 Minister und alle Abgeordneten. Sein Wahlverein wird zu eng für seinen Ehrgeiz. Er fühlt sich zu Höherem berufen. Seit 2020 beschränkt sich die historische Berufung der Regierung auf Krisenmanagement. Notfalls könnten beide Berufungen sich ergänzen. Verlöre Premier Xavier Bettel seine Mehrheit, könnte er Sven Clement um Hilfe bitten. Als parlamentarische Duldung, Unterstützung oder Beteiligung. Alles hinge vom Preis ab. Man ist unter Geschäftsleuten. Weshalb nicht auch nach den Wahlen?

Romain Hilgert
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