ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Die Ermessensfreiheit

d'Lëtzebuerger Land vom 06.05.2022

Die Staatsanwaltschaft teilte am 22. April mit, dass sie dem Kammerpräsidenten die Ermittlungsakte „en relation avec l’affaire dite ‚Gaardenhaischen‘ zugestellt habe. Nun stehe dem Parlament die Ermessensentscheidung frei, Anklage gegen ein Regierungsmitglied zu erheben. Gemeint war die grüne Umweltministerin Carole Dieschbourg.

Die Ministerin schlug zuerst in einer Pressemitteilung „d’Ophiewen vu menger Immunitéit“ vor. Die sie nicht besaß. Zwei Stunden später trat sie zurück, um die parlamentarische Befassung aufzuhalten. Die sie nicht aufhalten konnte.

Die Ministerin war unvorbereitet und schlecht beraten. Deshalb wurde gleich ein Schuldiger ausgemacht: Verfassungsartikel 82. Er besagt: „La Chambre a le droit d’accuser les membres du Gouvernement.“ Er steht seit dem 9. Juli 1848 in der Verfassung. Er war von Artikel 90 der belgischen Verfassung vom 7. Februar 1831 abgeschrieben worden.

Danach müsse „d’Legislativ der Justiz d’Erlaabnes ginn, fir den Exekutiv kënnen ze poursuivéieren“, so Premier Xavier Bettel (RTL, 25.4.). Das klingt nicht abwegig: Dem Parlament obliegt sowieso die Aufsicht über die Regierung. Das Gesetz vom 27. Februar 2011 räumt dem Parlament auch das Recht ein, Ermittlungsausschüsse mit den Befugnissen von Untersuchungsrichtern zu beschließen. Dagegen untersteht die Staatsanwaltschaft der Justizministerin. Sie kann schwerlich die Justizministerin oder einen ihrer Ministerkollegen verfolgen.

Ein Ausführungsgesetz zu Artikel 82 sollte die Prozedur regeln. Bis dahin verfügt Verfassungsartikel 116: „[L]a Chambre aura un pouvoir discrétionnaire, pour accuser un membre du Gouvernement, et la Cour supérieure, en assemblée générale, le jugera.“

Das Ausführungsgesetz wurde nie geschrieben. Denn es wurde nie gebraucht. Artikel 82 dient nicht dazu, Minister anzuklagen. Er dient dazu, Anklagen gegen Minister zu verhindern. Er soll verhindern, dass Regierungsmitglieder mit juristischen Winkelzügen beim Regieren behindert werden. Das aufstrebende Bürgertum wollte 1848 seine Regierungen gegen den autoritären Monarchen, unzufriedene Proletarier und missgünstige Konkurrenten schützen. Der Artikel kommt dem am nächsten, was Carole Dieschbourg für die politische Immunität von Ministerinnen hielt.

Das allgemeine Wahlrecht gebar 1919 das christlich-soziale Jahrhundert. Unter dem Vorwand der Antiquiertheit legte die CSV die Verfassung wörtlich oder metaphorisch aus, je nach Bedarf. Sie dachte nicht im Traum daran, durch ein Ausführungsgesetz einen Verfassungsartikel zu ersetzen, der ihr Ermessensfreiheit gewährte.

174 Jahre lang hat Artikel 82 gute Dienste geleistet, weil er nicht angewandt wurde. Nun könnte er angewandt werden. Deshalb hielt ihn Gesundheitsministerin Paulette Lenert „engem 21. Jorhonnert net méi würdeg“ (RTL, 22.4.). Transportminister François Bausch bedauerte „une procédure inscrite dans la Constitution qui date encore du XIXe siècle“ (Quotidien, 23.4.). Sie versetzten sich in Carole Dieschbourgs Haut. Sie fürchteten, ihnen könnte es einmal ähnlich ergehen. Vergangenes Jahr ersparte Jeannot Waringo der Familienministerin Artikel 82.

Artikel 82 war nicht immer so übel beleumdet. DP, ADR und Grüne stimmten am 20. Mai 1999 zwei Resolutionen. Sie wollten entsprechend der Verfassung „saisir la Cour Supérieure de Justice [...] du dossier dont la Chambre des Députés a été saisie [...] pour voir juger sur les préventions reprochées à Monsieur le Ministre Michel Wolter“.

In den Achtzigerjahren unterlag die Arbeiterbewegung. Partikularinteressen im Kleinbürgertum verfestigten sich zu neuen politischen Parteien. Sie machen Regierungskoalitionen unberechenbarer. Der „pouvoir discrétionnaire“ könnte in die falschen Hände geraten. Am 25. Januar verabschiedete das Parlament in erster Lesung eine Verfassungsrevision, um ihn abzuschaffen.

Romain Hilgert
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