Mit Fokus hat Frank Engel sich seine eigene CSV erschaffen. Nur viel kleiner, unbedeutender und wahrscheinlich auch kurzlebiger

„Total verkorkst“

Frank Engel am Dienstag im  Café Interview
Photo: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land du 14.04.2023

Ikarus Frank Engel (47) trägt braune Jeans und ein grau-braunes Sakko über dem weißen Hemd, als wir ihn am Dienstagnachmittag im Café Interview treffen – selbstverständlich Tweed, das sein Markenzeichen ist, aber ohne buntes Karomuster. Er bestellt Rosport bleu, keinen classique. Es soll sprudeln, aber nur leicht. Sein Dreitagebart ist gepflegt, die runde Brille lässt sein Gesicht weicher erscheinen als die eckige, die er trug, als er noch CSV-Präsident war. Frank Engel wollte hoch hinaus, doch er hat sich an der Sonne die Flügel verbrannt.

Am Mittwochnachmittag hat seine „postideologische“ Partei Fokus ihre Kandidat/innen für die Gemeindewahlen vorgestellt. Eigenen Angaben zufolge zählt sie 14 Monate nach ihrer Gründung rund 600 Mitglieder und Sympathisant/innen. Beide Kategorien seien fließend, meint Frank Engel, es seien Menschen, die Fokus zu ihren Veranstaltungen einlade; die die Partei unterstützten. Bei den Kommunalwahlen wird Fokus in der Stadt Luxemburg, Sanem und Differdingen antreten. Daniel Miltgen, früherer CSV-naher Direktor des Fonds du Logement und Vater der LSAP-Spitzenkandidatin Maxime Miltgen, Nico Hoffmann, Präsident des Konsumenteschutz ULC und der LCGB-Rentnerkommission, und Mario Daubenfeld, ehemaliger Befehlshaber der Armee und früherer Vorsitzender der ADR-Lokalsektion Luxemburg, werden in der Hauptstadt kandidieren. In Esch/Alzette hat es nicht für eine Liste gereicht: „Wir wollten keine Marktstände errichten, um Kandidaten anzuwerben, ein Minimum an Engagement wollten wir schon voraussetzen“, sagt der studierte Jurist. In Differdingen ist ein Drittel der Kandidat/innen von der ADR übergelaufen. „Weil sie sich mit den Aussagen mancher Politiker nicht mehr identifizieren konnten“, erklärt Frank Engel. Spitzenkandidat in Differdingen ist Lex Schroeder, der bis vor einigen Wochen noch Vizepräsident des ADR-Südbezirks war und 2018 bei den Kammerwahlen auf dem drittletzten Platz landete. Sein Bruder Jean-Marie, der nun ebenfalls für Fokus kandidiert, war Vorsitzender der Differdinger Lokalsektion. Die ADR wird diesmal keine Liste in Differdingen haben. Was genau vorgefallen ist, will Lex Schroeder nicht verraten. Er verweist auf Engel und Gary Kneip, den Generalsekretär von Fokus.

Frank Engel wird bei den Gemeindewahlen nicht kandidieren. Er könnte es in der Stadt Luxemburg, denn seine Partei ist zwar gegen das Doppelmandat, aber nur für Bürgermeister/innen. Und die Chancen, dass Fokus in der Hauptstadt stärkste Partei wird, sind gering. Doch Frank Engel will lieber nur in die Abgeordnetenkammer. Oder besser noch: in die Regierung. Sollte ihm das nicht gelingen, wäre ein Gemeinderatsmandat nur ein schwacher Trost: „Da kommen ech ebe net an d’Chamber. Wat hëlleft et dann an engem Gemengerot ze sëtzen. Dat ass jo keng Kompensatioun.“

Bei den Kammerwahlen will Fokus komplette Listen in allen Wahlbezirken aufstellen. Eine Anfrage für eine Zusammenarbeit mit den Piraten lehnten Marc Goergen und Sven Clement vor einigen Wochen ab. Vermutlich auch, weil Frank Engel als notorischer und unberechenbarer Unruhestifter gilt und für Sven Clement im Zentrumsbezirk ein ernsthafter Konkurrent gewesen wäre. Seitdem hasst Engel die Piraten. Als einzige Partei hat Fokus sogar schon ein Programm für die Nationalwahlen vorgelegt. Ein Rahmenprogramm für die Gemeindewahlen, wie es andere Parteien haben, braucht Fokus nicht: „Wat géife mer dann domat maachen?“, fragt Engel. Ein kurzes Gemeindewahlprogramm wurde zwar am Mittwoch auf einer Pressekonferenz präsentiert, doch es handle sich lediglich um eine Pflichtübung: „Dee Gemengekaderprogramm schreiwen ech säit 20 Joer. Ech weess wat do dra steet.“ Für ihn ist es belangloses Zeug: die Verbesserung der Lebensqualität, mehr Verkehrsampeln, keine Erhöhung der Hundesteuer.

Heiland Von anderen Parteien habe er noch keine pointierten Programmvorschläge gehört, moniert Engel. Was vielleicht auch daran liegt, dass außer Fokus noch keine Partei ein Programm für die Nationalwahlen vorgestellt hat. Doch er habe den Spitzenkandidat/innen zugehört, die in diesen Tagen im RTL Télé „defilierten“. Viel hätten sie nicht zu sagen – auch nicht Luc Frieden, der „Heiland der CSV“: „En huet versicht e Sechseck ronn ze maachen“. Der Stachel sitzt noch tief. Im Gespräch kommt Frank Engel immer wieder auf die CSV zurück. „Seine“ Partei, zu der er nach seinen politischen Anfängen in der radikalen Linken vor rund 30 Jahren gestoßen war. Schnell hatte er Karriere gemacht, war parlamentarischer Mitarbeiter des EU-Abgeordneten Jacques Santer, danach CSV-Fraktionssekretär. 1999 gründete er die feuchtfröhliche rechtsliberale „Denkfabrik“ Cercle Joseph Bech mit, 2009 wurde er ins Europarlament gewählt, nach der erneuten Wahlniederlage der CSV bei den Kammerwahlen übernahm er 2019 den Parteivorsitz. Und er hoffte, die noch immer stärkste Partei Luxemburgs 2023 als Spitzenkandidat in die Kammerwahlen führen zu können.

Provoziert hat Engel seit jeher. Eine unverblümte Sprache und deftige Sprüche sind ein wichtiger Bestandteil seines rhetorischen Repertoires („Oppositioun maachen ass net, deenen anere mat engem feste Stral un d’Bee pissen“). Doch als CSV-Präsident war er zu weit gegangen, als er im Sommerloch 2020 ohne Absprache mit seiner Partei eine Diskussion über die (Wieder-)Einführung der Vermögenssteuer und der Erbschaftssteuer in direkter Linie anstieß. Einige Mitglieder der Kammerfraktion zahlten es ihm heim, indem sie ihn wegen eines angeblich illegalen Arbeitsvertrags mit dem Unterstützungsverein CSV-Frëndeskreess bei der Staatsanwaltschaft denunzierten. Enttäuscht trat Engel als Präsident zurück und verließ die Partei. Am Ende wurde er vor Gericht freigesprochen, doch seine politische Karriere in der CSV war vorbei.

Weil er nichts anderes kennt als Politik, gründete Engel im Mai 2022 seine eigene Partei (bis auf ein Mandat im Verwaltungsrat einer Holding des privaten Militärunternehmens Global war er nie außerhalb der Politik tätig). Mit Dissidenten von DP, CSV und Grünen, politisch unerfahrenen Unternehmern und Managern, von denen der bekannteste der frühere Cobolux-Generaldirektor Jacques Linster ist. Entgegen anderslautender Aussagen aus den eigenen Reihen über Mitglieder- und Bürgerbeteiligung ist Fokus unverkennbar die Partei von Frank Engel. Das Wahlprogramm stammt eindeutig aus seiner Feder. Ideen darin fanden sich schon im Positionspapier Mir, d’CSV. Mir zu Lëtzebuerg, das er vor zwei Jahren noch als CSV-Parteipräsident verfasste. Tatsächlich liest sich das Programm von Fokus wie eine Kurzfassung seines im November herausgegebenen Buchs Wuerfir nach Politik?, in dem er sein parteipolitisches Engagement legitimierte.

Top Boy Schon bei der Gründung von Fokus war Frank Engel zum nationalen Spitzenkandidaten gekürt worden, antreten wird er im Zentrum. Ob er neben ihm noch andere Spitzenkandidaten in den drei restlichen Wahlbezirken dulden wird? „Wozu?“, fragt Engel. „Damit wir noch drei weitere Pressekonferenzen organisieren können, um sie vorzustellen?“ Seit Wochen würden Parteien in Gemeinden Spitzenkandidat/innen-Duos vorstellen, ohne dass sie ein Programm oder eine Liste hätten. „Mengt der net, d’Leit hätten es iergendwann eng Kéier bis dohin?“

Dabei kann Fokus öffentliche Aufmerksamkeit gut gebrauchen. Weil die Partei kein politisches Mandat hat, muss sie ihre Ideen anders unter die Leute bringen. Für Wahlspots und Hochglanzbroschüren habe sie kein Geld, sagt Engel. Ihr „vierstelliges Budget“ habe Fokus damit erreicht, dass sie Mitgliedsbeiträge von 100 Euro verlangt (im Online-Formular auf der Fokus-Webseite steht 50 Euro). Manche Mitglieder hätten sogar einen Tausender in die Kasse gelegt, meint Engel, auch er selbst.

„Radikal éierlech“ sei Fokus, heißt es im Wahlprogramm. Der Anspruch ist hoch: „Fokus trëtt den 8. Oktober u fir d’Politik zu Lëtzebuerg ze veränneren. An der Aart a Weis an am Stil. Mee virun allem och an den Inhalter, an den Uluechten, an der Dynamik, am Wëlle fir wierklech Verännerungen erbäi ze féieren.“ Das klingt nach abgedroschenem Polit-Marketing, wie es fast alle betreiben, doch in manchen Bereichen finden sich bei Fokus tatsächlich „Visionen“, die andere Parteien noch nicht in dem Maße aufgegriffen haben. Bei näherer Betrachtung erweisen sie sich als Transposition europäischer Konzepte in einen nationalen Kontext. Etwa wenn Fokus die Wohnungsnot, das Verkehrsproblem und den Fachkräftemangel mit einem „aneren territo-riale Modell“ bekämpfen will, das Luxemburgs Wirtschaftswachstum auf die Großregion („vu Nanzeg bis Maastricht“) ausdehnen will. Neu ist die Idee nicht – der frühere UEL-Präsident Nicolas Buck hatte sie schon geäußert und der grüne Landesplanungsminister Claude Turmes will in Esch/Alzette ein grenzüberschreitendes Viertel bauen. Als nationale Strategie hat sie aber bislang nicht Einzug in den politischen Diskurs gefunden. Fragen stellen sich vor allem hinsichtlich der Umsetzbarkeit, die wegen der nationalen Souveränität und der zentralisierten Verwaltung mancher Nachbarstaaten als problematisch eingeschätzt wird. Ob es reicht, dass Premierminister Xavier Bettel (DP) ein freundschaftliches Verhältnis zum französischen Präsidenten Emmanuel Macron pflegt, wie Engel meint, darf bezweifelt werden.

Transgressiv ist auch die Vorstellung der E-Residency oder des E-Citizenships: Menschen, die für eine Firma mit Sitz in Luxemburg arbeiten, aber nicht im Land leben, sollen sich zu „erwerbsrelevanten Zwecken“ in Luxemburg anmelden können und hier auch Steuern zahlen. Voraussetzung für diese „Arbeitsmigration ohne Migration“, wäre jedoch eine vollständige Digitalisierung der Gesellschaft samt aller öffentlichen Verwaltungen. Darüber hinaus möchte Fokus den Betriebssteuersatz auf 20 Prozent senken. Einen Unterschied zu den 25 Prozent, die aktuell erhoben werden, mache das nicht, weil real „sowieso kaum ein Unternehmen in Luxemburg Steuern zahlt“, doch ein niedriger Satz könne wenigstens neue Betriebe anziehen, meint Engel. Per Gesetz will Fokus die Möglichkeit von Steuerrulings für „Gesellschafte mat international komplexer Kontabilitéit“ schaffen, und gleichzeitig (spekulative) Finanztransaktionen besteuern. Ökologische Abgaben finden sich im Programm von Fokus genauso wenig wie Aussagen zu einer Vermögens- und Erbschaftssteuer in direkter Linie. Während Ökosteuern „vielleicht noch nachgereicht“ würden, habe man die Erbschaftssteuer lieber weggelassen, weil man damit in Luxemburg schnell in einer vereinfachenden Debatte lande, erläutert Engel. Darüber hinaus würde der Staat mit der Kapitalbesteuerung genug Einnahmen erzielen. Aussagen zu Arbeitnehmerrechten findet man außer dem „sozialen Index“ (Empfänger des unqualifizierten Mindestlohns erhalten drei Prozent, mit der Höhe des Einkommens nimmt der Prozentsatz regressiv ab) im Fokus-Programm nicht.

Die Idee, das Wahlrecht dahingehend zu reformieren, dass Staatsminister/innen (und auf kommunaler Ebene Bürgermeister/innen) direkt gewählt würden und sich ihre Regierung zusammenstellen könnten, ist an das französische Präsidialsystem angelehnt. Laut Engel würde es den Parteizwang in der Kammer verringern, wie auf EU-Ebene müssten die Minister/innen aktiv nach parlamentarischer Unterstützung für ihre Gesetzentwürfe werben.

Sonderberater Weit weniger visionär sind die Vorschläge von Fokus, wenn es um die Lösung von konkreten, alltäglichen Problemen geht. Um die Wohnungsnot zu bekämpfen, will die Partei 50 000 neue Wohneinheiten bauen lassen. Den Einwand, alle anderen Parteien wollten ebenfalls zusätzlichen Wohnraum schaffen, lässt der Spitzenkandidat nicht gelten: „Ween huet da jee eng Kéier gesot, 50 000 ass d’Zuel?“, echauffiert er sich. Eine latente Aggressivität schwingt in seinen rhetorischen Fragen immer mit. Luxemburg bräuchte mehr Wohnraum, der per Erbpachtvertrag angeboten wird, führt er weiter aus. Wer soll das planen und bauen? Der Staat? Private Bauherren? Haben die überhaupt Interesse am Modell des Erbpachtvertrags? „Das bleibt noch herauszufinden“, sagt Engel. Anderen Parteien habe noch nie jemand die Frage gestellt, ob ihre „topesch Ukënnegungen“ umsetzbar seien.

Im Kapitel über Klimaschutz und Energietransition fällt auf, dass Fokus sich zu Atomstrom bekennt und dem Wasserstoff eine gewichtige Rolle zuschreibt, was damit zusammenhängen könnte, dass Engel seit einem Jahr hauptberuflich Sonderberater von Hydrogen Europe ist, dem Dachverband der europäischen Wasserstoffindustrie.

Was sagt das alles über die politische Ausrichtung von Fokus aus? Wo positioniert die Partei sich im politischen Spektrum? Auf diese Frage will Frank Engel nicht mehr antworten, denn die Diskussion sei „total verkorkst“. Um die gesellschaftlichen Herausforderungen zu bewältigen, brauche es pragmatische Ansätze überall, egal ob sie von links oder von rechts kommen. „Wo stehe ich, wenn ich für das Wahlrecht von EU-Bürgern, gegen das Bettelverbot und für eine liberale Migrationspolitik bin? Bin ich dann rechts?“

Die Einwanderungspolitik von Fokus ist jedoch alles andere als liberal: „Ween an d’Europäesch Unioun wëll awanderen, an do eng längerfristeg Aarbechtsperspektiv huet, muss dat kënne maachen“, heißt es im Wahlprogramm, und weiter: „Fokus steet kloer fir eng Opnamperspektiv fir Leit, déi zu Lëtzebuerg wëllen e neit Liewen ufänken an sech an eiser Gesellschaft abréngen. Däer hir Regele gëlle fir jiddereen. Ween sech dorun net wëllt halen, besonnesch wann et ëm gläich Rechter fir Fra a Mann geet, d’Liewen a Fräiheet fir jiddereen a gesellschaftlech a reliéis Diversitéit, huet och näischt bei eis verluer.“

Die populistische Schiene wird von ADR und Piraten schon gut bedient. Allerdings dürfte Fokus zu einer Konkurrenz für sie werden: Protestwähler/innen, denen die ADR zu rechts geworden ist und denen die Piraten zu beliebig sind, könnten sich in Fokus wiederfinden. Ob es im Oktober für einen Sitz reichen wird, ist jedoch fraglich. Aber was passiert eigentlich mit Fokus, wenn der Wahlerfolg ausbleibt? „Wenn das Angebot von der Wählerschaft nicht als notwendig empfunden wird, ist es mit Fokus vorbei“, dekretiert Engel. Dann müssen 600 Mitglieder und Sympathisant/innen sich eine neue politische Heimat suchen, für viele von ihnen wäre es schon die dritte. Und Frank Engel? Eigenen Aussagen zufolge kann er ganz gut ohne Politik leben.

Luc Laboulle
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