ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Pacta sunt servanda

d'Lëtzebuerger Land vom 13.08.2021

Das hauptstädtische Geschichtsmuseum zeigt eine Ausstellung über Verschwörungstheorien. Bürgermeisterin Lydie Polfer hat dem Museum verboten, die Terroranschläge der Achtzigerjahre zu erwähnen. Das war die richtige Entscheidung aus dem falschen Grund.

Waren die Sprengstoffanschläge eine Verschwörung (von Gendarmerie, Nato, Geheimdienst)? Oder waren sie eine Verschwörungstheorie (von RTL, Rechtsanwälten, Zeugen)? Oder wurde die Verschwörung hinter Verschwörungstheorien versteckt (über den Schwarzen Prinzen, Gladio, das Oktoberfest)?

Die Ausstellung verwirrt manche Besucher. Sie haben Schwierigkeiten, die Fake News auszumachen, wenn sie die Genuine News nicht kannten. Die Ausstellung hätte auch die Terroranschläge in Gerüchten ersäuft. Politik, Presse und sonstige Spinner haben die Anschläge ausreichend zur Comic-Figur „Bommeleeër“ folklorisiert.

Es gibt linken und rechten Terrorismus. Der eine schlägt gezielt zu, um Angst unter Vertretern von Politik und Wirtschaft zu schüren. Er bekennt sich dazu. Der andere schlägt blind zu, um Angst in der Bevölkerung zu schüren. Er bleibt stumm. Die Anschlagswelle von 1984 bis 1986 war rechter Terrorismus.

Im Tripartite-Land Luxemburg waren die Klassenkämpfe Kommentkämpfe. Deshalb blieb der rechte Terrorismus unblutig: Statt eine Autobombe zur Mittagszeit in der belebten Großgasse abzustellen, sprengten die Attentäter abends verlassene Gebäude und Strommasten. Das Gegenteil der damals viel diskutierten Neutronenbombe.

Erst in der Anklageschrift, dann mit der Bloßstellung des Geheimdienstes und schließlich der Beschuldigung der ehemaligen Gendarmerieführung erbrachte die Justiz den Nachweis: Der staatliche Sicherheitsapparat verübte und vertuschte die Terroranschläge. Bis heute bestritt das niemand. Es empörte auch niemand. Niemand übernahm die politische Verantwortung.

Schon nach drei Jahren waren die Anschläge „superfétatoires“: International hatte der Ennemi 1989 kapituliert. Der Neoliberalismus hatte sich durchgesetzt, der Kalte Krieg war zu Ende.

Lydie Polfer gehört seit Jahrzehnten zu den politisch tonangebenden Liberalen. Sie hasst Unordnung. Also auch die „Propaganda der Tat“. Selbst wenn diese aus ihrer, der staatlich besoldeten Mitte der Gesellschaft kommt. Sie will nicht, dass die alten Geschichten noch einmal Staub aufwirbeln. Dass erneut Misstrauen gegenüber den bürgerlichen Verhältnissen und deren Staatsorganen aufkommt.

„Gerüchte von Wahrheit zu trennen, ist Sache der Justiz“, dekretierte die Rechtsanwältin auf reporter.lu (29.6.21). „Wenn der Prozess einmal abgeschlossen ist“, dürfe der „Bommeleeër in einer Ausstellung thematisiert“ werden.

„Es ist anachronistisch zu glauben, dass man 2021 juristisch auf Ereignisse antworten kann, die sich in den Siebzigerjahren zugetragen haben“, erwiderte der italienische Historiker Enzo Traverso. Er meinte die Auslieferung von Mitgliedern der Roten Brigaden. Ereignisse, „die mehr als 40 Jahre zurück liegen, also zwei Generationen, und die noch nicht ‘historisiert’ sind“ (storieinmovimento.org, 7.5.21).

Die seit 35 Jahren verschleppten Ermittlungen machen die Sprengstoffanschläge unverjährbar wie Kriegsverbrechen. Im Laufe der Zeit gerinnt juristische Erkenntnis zu historischer. Im Mai 2014 beriet die Regierung über eine Amnestie für die Terroristen mit CGFP-Karte. Vielleicht um anstelle von Gerechtigkeit wenigstens Wahrheit zu erkaufen. Aus Rücksicht auf das laufende Gerichtsverfahren sah das Kabinett von einem präventiven Straferlass ab.

Bis zum Abbruch des Prozesses 2014 war die Vorsitzende Richterin erfolgreich als Historikerin, nicht als Juristin. Als Historikerin legte sie an 177 Verhandlungstagen große Teile der Verbrechen und Komplizenschaften bloß. Als Juristin fehlten ihr die Beweise, um individuelle Verantwortungen auseinanderzuklauben. Alle hielten dicht. Lydie Polfer rät abzuwarten, bis alle tot sind.

Romain Hilgert
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