Deutschland

Die Stille vor der Wahl

d'Lëtzebuerger Land vom 13.08.2021

Um Inhalte geht es schon lange nicht mehr. Noch weniger um das, was die Menschen bewegt, sie bedrückt, ihnen am Herzen liegt. Am allerwenigsten geht es um die Zukunft der größten Volkswirtschaft in der Europäischen Union. In sechs Wochen ist Bundestagswahl. Der Wahlkampf ging am vergangenen Wochenende in die entscheidende Phase. Und doch bleibt er seltsam inhaltsleer. Wenn denn dem Wort „Wahlkampf“ das „Kämpfen“ immanent ist, dann scheint er dieses Jahr auszufallen – und es gewinnt die Nostalgie, dass früher alles besser war, die Wahlkämpfe engagierter, leidenschaftlicher und packender. Einerseits. Andererseits offenbart der diesjährige Wahlkampf eine ungeahnte Polarisierung der Bevölkerung, die sich – anstatt der Politik – in einen Kampf um die Deutungshoheit begibt, gesellschaftliche Spaltung dabei manifestiert, wenn nicht gar zementiert, und die Metaebene des Gemeinwohls und der Solidarität verlässt, um aus einer Position der Rechthaberei zu argumentieren.

Sicherlich waren Wahlkämpfe in der Bundesrepublik Deutschland schon immer – im Vergleich mit anderen Demokratien – betulich, handzahm und auf die Schonung des politischen Gegners angelegt. Denn man wusste nie, mit wem man sich am Wahlabend auf eine Koalition einigen musste. Da durfte im Vorfeld nicht allzu viel Porzellan zerschlagen werden. Hinzu kamen die Erfahrungen aus der Weimarer Republik und der DDR, die vor politischen Propagandainszenierungen zurückschrecken lassen. Dennoch gelang es den Parteien in der Vergangenheit mit Zuspitzungen Themen zu setzen. So die Christdemokraten bis in die 1970er-Jahre hinein mit ihrem Slogan „Freiheit oder Sozialismus“ oder mit ihrer „Rote Socken“-Kampagne im Jahr 1994. Einen historischen Bruch gab es vier Jahre später mit dem erfolgreichen Wahlkampf des Sozialdemokraten Gerhard Schröder: Er hatte die Kampagne seiner Partei völlig auf seine Person und auf eine konstruierte, gesellschaftliche Mitte zuschneiden lassen. Seitdem ist dies der imaginäre Sehnsuchtsort aller politischen Parteien in Deutschland. Die Mitte entscheidet über den Sieg.

Mit weitreichenden Folgen: Denn wenn alle Mitte sein wollen, kommen keine Kontroversen auf. Genau auf dieses Momentum setzen die Christdemokraten seit dem Einzug von Angela Merkel ins Bundeskanzleramt. Seitdem wird im Konrad-Adenauer-Haus, der Parteizentrale der CDU neben der luxemburgischen Botschaft in Berlin, die Strategie der asymmetrischen Demobilisierung verfolgt. Damit verweigert die Partei den politischen Gegnern jedwede Kontroverse, um so deren Wählerinnen und Wähler zu demotivieren. Die Folge war eine Entpolitisierung der Gesellschaft, eine Sedierung der Bevölkerung, die Kultivierung des Weiter-So, die Beständigkeit der Angela Merkel. Diese Entwicklungen werden im aktuellen Wahlkampf bestärkt. Und das ohne großes Zutun der CDU. Die AfD, derzeit größte Oppositionspartei im Bundestag, findet medial nicht statt. Ihr ist das parteiidentitätsbildende Thema „Migration“ abhanden gekommen. Bei den Gegnern der Corona-Politik kann sie nicht reüssieren, da diese lieber ihr eigenes Süppchen kochen und selbst an die Fleischtöpfe der Politik wollen, indem sie ihre eigene Partei „Die Basis“ gründeten. Die AfD verzichtete sogar in Berlin darauf Plakate zu hängen. Die Freien Demokraten haben das Sprichwort „Wer nichts macht, macht nichts verkehrt“ so sehr verinnerlicht, dass diese Untätigkeit sie sogar zum Erfolg tragen könnte. Linke und SPD sind marginalisiert. Die Sozialdemokraten durch die acht langen Jahre gemeinsamer Koalitionskabinette mit der CDU/CSU, in der sie ihre Akzente und ihre Projekte nicht als ihre verkaufen konnte. Die Linken sind vor allem durch interne Richtungs- und Machtkämpfe gelähmt. Aber auch der Fakt, dass es der Partei in den dreißig Jahren seit der Wiedervereinigung nicht gelungen ist, im Westen Fuß zu fassen. Vom Saarland abgesehen. Bleiben also die Grünen.

Sie machen Wahlkampf und zeigen deutlich auf, wohin die Reise mit ihnen gehen soll. Dazu haben sie ein grünes Wahlprogramm und ein grünes Sofortprogramm aufgelegt, Pläne für ein Klimaministerium veröffentlicht. Im Grunde genommen alles Steilvorlagen für die Konservativen. Doch nach 16 Jahren Angela Merkel kann die Partei nicht mehr kämpfen. Sie ist satt, ausgebrannt, leer. Denn die asymmetrische Demobilisierung hat auch in die Partei hinein gewirkt. Sie lässt die Parteimitglieder im tiefen Glauben, dass es ohne die Christdemokraten ohnehin keine Regierung – und auch keine Regierung ohne ihre Führung geben wird. Lediglich der Koalitionspartner am Berliner Kabinettstisch werde nach der Wahl am 26. September ausgetauscht.

Zudem gibt es in der Partei aber auch eine große Angst vor eben dieser vielbeschworenen Mitte. Diese ist eben nicht mehr eine soziodemografisch beinahe fest umrissene, scheinbar unveränderbare Gruppe der Gesellschaft, sondern – wie die Gesellschaft selbst – dem Wandel unterworfen. Sie verfolgt nicht mehr nur eine politische Agenda, sondern ist divers. Und das in jedweder Hinsicht. So zeigte sich beispielsweise bei den Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung, dass die Teilnehmer an den Protesten keine homogene Gruppe, sondern eine heterogene Ansammlung war. Diese reichte von eingefleischten Rechtsextremen bis eben hin zu Familien, die man im liberalen Bildungsbürgertum verortete, also genau eben aus jener Mitte, die die Politik seit dem Ende der 1990-er-Jahre als wahlentscheidende Zielgruppe definierte.

Und damit nicht genug: Die Konservativen fürchten sich auch vor den Internet-Netzwerken, vor den derzeit vorherrschenden politischen Themen wie Klimaschutz, Migration und Globalisierung – vor allem aber auch vor Frauen. Ob sie nun Greta Thunberg, Luisa Neubauer oder Annalena Baerbock heißen. Sie werden von den Konservativen mit den Reflexen alter weißer Männer bekämpft, die verbissen um ihre Pfründe fürchten. So twitterte CDU-Rechtsaußen Hans-Georg Maaßen etwa Anfang Juni, dass die Anfangsbuchstaben des vollständigen Namens der grünen Kanzlerkandidatin Annalena Charlotte Alma Baerbock als Chiffre für All cops are bastards (Alle Polizisten sind Scheißkerle) interpretiert werden könnte. Nicht wenige Parteimitglieder johlten begeistert. Man rüffelt den ehemaligen Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz ein wenig halbherzig, doch belässt ihn als Bundestagskandidaten für einen thüringischen Wahlkreis. Diese Halbherzigkeit, dieses Lavieren, die fehlende klare Kante ist derzeit die treibende Kraft der deutschen Christdemokratie. Anstatt diesen Ängsten mit einem konservativen Zukunftsmodell zu begegnen und etwa einen Gegenentwurf zur Identitätspolitik des linken Milieus zu bieten, versagt sich die Partei. Vollkommen. Allem.

Stattdessen hoffen alle Akteure auf Fehler beim politischen Gegner und versucht diese in Kapital umzumünzen. Und Pannen gibt es mannigfach. Das ist der grinsende und feixende Armin Laschet während einer Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zum Gedenken an die Flutopfer in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz vor wenigen Wochen. Auch wenn es nur wenige Sekunden Filmmaterial sind, schicken diese die CDU in den Sinkflug bei den Wahlforschungsinstituten. Er entschuldigt sich. Wenig später muss er eingestehen, dass auch er in seinem Buch, dessen Erlöse er nicht korrekt versteuert hatte, plagiiert hat. Er entschuldigt sich. Dann erneut ein Besuch im Katastrophengebiet, bei dem er von Betroffenen lauthals als Versager beschimpft und massiv ob des Krisenmanagements kritisiert wird. Ohnehin kämpft Laschet mit dem Vorwurf, in politisch-gesellschaftlichen Extremsituationen jedwede Souveränität vermissen zu lassen, sich in schwammigen Aussagen zu verlieren und völlig ohne Profil zu bleiben. Parteiintern soll ihm auch der Spitzname „Grinsekatze“ anhaften. Klare Haltung – sei es personell zu Maaßen oder thematisch zum Klimawandel – lehne er ab. Im Internet gibt es inzwischen eine Phrasendreschmaschine, die zu verschiedenen Politikthemen mit Hohn und Häme Satzhülsen des CDU-Kanzlerkandidaten ausspuckt.

Auch Annalena Baerbock, Spitzenkandidatin der Grünen, übt sich derzeit im Hindernislauf des Wahlkampfs und verläuft sich sehr oft in den Ansprüchen, die an eine mögliche Regierungschefin gestellt werden. Die Pannen mögen vielen als Petitessen erscheinen. So verwechselte sie auf einem Ortstermin vor wenigen Tagen die brandenburgischen Regionen Barnim und Oderbruch – was in etwa einer Verwechslung von Ösling und Moselregion gleichkommt. Dass sie von 2009 bis 2013 den Grünen in Brandenburg als Landeschefin vorstand, macht diesen Fauxpas jedoch umso absurder. Darüber hinaus plagen auch sie Plagiatsvorwürfe, nicht korrekte Angaben in einer Einkunftserklärung an den Bundestag sowie ein Stipendium zwischen 2009 und 2012 einer parteinahen Stiftung von mehr als 40 000 Euro für ihre letztlich nie vollendete Promotion. Dies ist eine mehr als fragwürdige Zuwendung für eine schon damals sehr aktive Politikerin. Baerbocks anfänglicher Esprit ist dahin. Mit diesem sind die Grünen im April mit einem Umfragehoch von fast 30 Prozent in den Wahlkampf gestartet. Nun sind es fast zehn Prozentpunkte weniger.

Scheinbar pannenfrei kommt Olaf Scholz des Weges. Doch der Sozialdemokrat kann seine guten Umfragewerte nicht in politisches Kapital für die Partei ummünzen. Er gibt sich emotionslos, themenleer, blass, als Verwalter seiner selbst, als Schatten einer vergangenen Dekade. Doch er trägt eine schwere Hypothek: So war er als Erster Bürgermeister der Hansestadt Hamburg vermutlich in den Cum-Ex-Skandal um die Warburg Bank in den Jahren 2009 und 2010 verwickelt; als Bundesfinanzminister oberster Aufseher der Bankenaufsicht bei der Implosion von Wirecard im vergangenen Sommer. In den betreffenden Untersuchungsausschüssen präsentierte Scholz gerne seine Gedächtnislücken.

Der Souverän verlegt den Wahlkampf derweil ins Internet. Hier kämpft er verbissen, teilweise bis aufs Blut für seine Überzeugung und greift dazu zu gerne zu alternativen Fakten, Verschwörungstheorien und putzigen Videos. Eine Debatte wird dabei nicht geführt. Es geht einzig und alleine darum, Recht zu haben. Dabei überrascht es, dass die Parteien in diesen Internetmedien thematisch kaum vorkommen. Stets im Verteidigungsmodus gelingt es ihnen nicht, ihre Perspektiven darzustellen und zu vermitteln, Argumente zu liefern und Debatten zu führen. Das größte Missverständnis am derzeitigen Bundestagswahlkampf ist, dass er von den Parteien – in gewohnter und geübter Manier – an den Menschen vorbei geführt wird. Die Mitte der Bevölkerung ist der Politik längst enteilt.

Martin Theobald
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