Die kleine Zeitzeugin

Die Kadaver der Kathedralen

d'Lëtzebuerger Land vom 19.04.2019

Wer sind diese inmitten europäischer Städte gelandeten oder gestrandeten Geisterschiffe? Diese zu Grabmälern mutierten gottverlassenen Denkmäler, auch die Menschenseelen meiden sie zunehmend, wenngleich die Stars unter diesen Bauten zu Mega-Attraktionen avanciert sind. Die bescheideneren Bauwerke, die nicht mit den heißen Namen der Kunstgeschichte punkten, führen längst ein Schattendasein. Einst Kraftorte, dann Machtorte, jetzt Todeszonen. Nur noch Fundis finden den Weg dorthin, seltsame Menschen, oder welche in einer so schweren Krise, dass sie in die Knie gehen. Die scharen sich in Seitenschiffen und Nebenräumen zusammen, wo sie abfahren auf Ritualen und abheben, so dass einer urchristlich zumute wird.

Das schreibt eine hin und wieder von christlichen Schüben Heimgesuchte. Meist fragt sie sich aber, kaum dass sie eintritt in die von mickrigem sg. ewigem Lichtlein erleuchtete Finsternis, was oder wen sie ausgerechnet hier sucht. Was soll Er – die Geschlechtszuweisung ist so beschränkend wie die Enge, die sie umgibt – inmitten von Sado-Maso-Requisiten und wurmstichigen Puppen? Bei den Todesexhibitionist_innen und den Gottesesser_innen? Soll das himmlische Kind mit abgeschnittenen Zungen spielen, mit tausendjährigen Zehennägeln?

Und die irdischen Kinder, soll man sie wirklich verschleppen zu den zauberhütigen Dienern von Mutter Kirche? Weil sie eventuell dereinst nicht nur Europäerin oder Weltbürger sein wollen, sondern auch einen Gott haben wollen, einen mit Stallgeruch? Himmlische Wurzeln. Oder auch nur wegen Kultur Erbe Bildung Abendland? Den Scheiterhaufen, Michelangelo, den rodenden Mönchen.

Kalt wird mir trotzdem, wenn ich auf holländischen Kirchen „Te huur“ lese, die pragmatische Ratio und Wegrationalisierung erscheinen noch gruseliger als jeder Gothic-Grusel.

Und dann brennt Notre-Dame.

Wie ein Lauffeuer verbreitet sich das Feuer im Himmel von Paris in allen Netzwerken, die Menschen versammeln sich um die himmlische Fackel. Auch die, die mit Gott und Kirche null am Hut haben, singen plötzlich Ave Maria. Die Politiker_innen nehmen sich vor, einen Moment den Mund zu halten. Macron redet von Zusammenhalten und Aufbauen, Melenchon von den Arbeitern und Handwerkern, die aufgebaut haben. Die Milliardäre übertrumpfen einander im Spendenrausch. Jeanne d’Arc und Quasimodo und Napoleon: Frankreich schwelgt in sich selbst, welch ein französischer Abend dieser Abend des lodernden Pariser Herzens!

Die Welt lodert mit. Auf Russland-TV sieht ein tränenumflorter deutscher Vatikan-Journalist das christliche Abendland in Flammen aufgehen. Der türkische Kulturverein in Wien stellt sich ein aus der Asche von Notre-Dame geborenes europaweites Solidaritätsprojekt vor. Deutschsprachige Zeitungen zitieren Hugo, als hätten ihre Schreiber_innen sich gerade den Glöckner einverleibt. Die, die süchtig sind auf Zeichen an der Wand und im Himmel, lassen ihren Fantasien freien Lauf, läuft nur immer aufs Gleiche raus. Eine Libération-Autorin grübelt, ob es fair ist, dass wir bei Notre-Dame weinen und nicht bei Palmyra, dass wir Europäer_innen so eurozentristisch fühlen.

Selbst die christengottlosesten FB-Freund_innen wettern gegen solche, die blöde Witze reißen oder denen es an Empathie mangelt. Solche wie mich, außer Sensa-
tionslust verspüre ich erstmal nicht viel. Genauso wenig wie vor wenigen Jahren in Notre-Dame; die bestellte Verzückung oder wenigstens Beglückung stellte sich nicht ein. Die Schönheit traf mich nicht, als ich mich inmitten der Tourist_innen bewegte, nichts bewegte mich. Draußen ließ ich mich dann erleichtert umzwitschern und von Autos umströmen.

Schon wieder das Abendlandidentitätsdingsbums, könnte man aufstöhnen. Aber die Qualität der Fragestellungen und Infragestellungen ist eine tiefgreifendere, wesentlichere.

Offenbar hat das Brandzeichen am Himmel von Paris etwas aufgezeigt: Eine große Sehnsucht.

Michèle Thoma
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