Lage der Nation 2006

Die hohe Kunst der Indexmanipulation

d'Lëtzebuerger Land vom 04.05.2006

Etwas peinlich war Premier Jean-Claude Juncker seine Erklärung zur Lage der Nation schon, die er am Dienstag vor dem Parlament abgeben musste. Denn nach fast 22 Jahren im Finanzministerium musste er sich selbst ein ziemlich beschämendes Zeugnis ausstellen: „Unsere öffentlichen Finanzen bewegen sich in die falsche Richtung.“ Trotz mehr als vier Prozent Wirtschaftswachstumsind seine Finanzen „teilweise schon an der falschen Stelle angekommen, das heißt im Ungleichgewicht und im Defizit“ (S. 4), klagte der Vorsitzende der Euro-Gruppe.

Deshalb musste Jean-Claude Juncker sich drehen und winden, die beste Verteidigung im Angriff suchen und sachte die Schuld auf die „automatischen Stabilisatoren“, die DP, die LSAP (S. 5) sowie sämtliche in der Tripartite vertretenen Unternehmerverbändeund Gewerkschaften (S. 6) schieben. Im gleichen Atemzug bescheinigte er sich auch noch selbst, kühn keynesianistisch die Konjunktur gerettet zu haben, als er vor vier Jahren eine Runde Steuersenkungen fürs ganze Lokal schmiss. Seither reichen die Einnahmen nicht mehr für die Ausgaben.

Vielleicht ist der Mann bloß ein besserer Politiker als Haushalter. Mehr noch: er hatte allen Grund, in seiner Erklärung zur Lage der Nation von einem politischen Zauberkunststück zu berichten, das ihm vor 14 Tagen gelungen ist. Innerhalb der nächsten zwei Monate soll das Parlament nämlich ein Gesetz stimmen, um dreieinhalb Jahre lang den Index zu manipulieren, und das ganz ohne „im sozialen Krieg stecken zu bleiben“ (S. 45), „nach einer Abmachung in der Tripartite, ohne Streik wie 1982-1983, ohne böses soziales Blut und im Geist des Luxemburger Modells“ (S. 15).

Von einem derart kunstvollen Umgang mit dem Gral der Luxemburger Sozialpolitik hatte selbst sein politischer Großvater, Pierre Werner, nur träumen können. Werners Regierung hatte zwar mit dem Einverständnis der Tripartite den Index durch das Gesetz vom 1. Juli 1981 ein erstes Mal „moduliert“, das heißt die Vorschusstranche von 1,5 Prozent abgeschafft und die Auszahlungder Indextranchen jeweils um einen Monat verzögert. Doch gegen die ein Jahr später beschlossene „Manipulation“ streikten am 5. April 1982 die Mitglieder und Sympathisanten von OGB-L, LCGB, FNCTTFEL, NHV, FCTP, FGFC und FLTL.

Dabei hätte Pierre Werner damals auf weitaus größeres Verständnis der Lohn- und Gehaltsempfänger zählen dürfen als Juncker heute. Denn nach der Abwertung der gemeinsamen Währung durch die belgische Regierung mitten in der Stahlkrise stieg die Inflationsrate 1982 auf 9,4 Prozent, mehr als das Dreifache der 2,9 Prozent heute. Und gegenüber einer Indextranche jährlich von 2006 bis 2009 gewährte die damalige Regierung immerhin zwei Tranchen 1982 und drei Tranchen 1983.

Doch die bereits vor dem Krieg aus Belgien übernommene und erst durch das Gesetz vom 27. Juli 1975 verallgemeinerte automatische Anpassung der Löhne, Gehälter und Renten an einen Index der Lebenshaltungskosten gilt als die weitest reichende Errungenschaft der Luxemburger Lohnabhängigen. Bis vor wenigen Jahren drohten LAV beziehungsweise OGB-L und zuletzt noch LCGB, umgehend zu einem Generalstreik aufzurufen, wenn Regierung und Unternehmer an den Index rührten. So dass der politische Eiertanz rund um den Index bis heute weiter geht, seit der Landesverbandder Eisenbahner vor über 20 Jahren gelbe Aufkleber mit der Warnung „d‘FANGER ewech vum INDEX“ in den Druck gegeben und die Regierung mit der Erfindung ebenso legendärer Hüllwörter wie „Modulation“ und „Manipulation“ gekontert hatte.

Nach dem derzeitigen Stand der Wissenschaft würde bis Ende 2009 jährlich eine Indextranche fällig werden, schätzungsweise jeweils im August. Doch nach wochenlangen Plenarverhandlungen und Einzelgesprächen hat die Tripartite letzten Monat abgemacht, dass die Auszahlung der Indextranchen dieses Jahr um vier und während der nächsten Jahre um fünf Monate verzögert wird. Sollten die Erdölpreise nicht wieder sinken – was als eher wahrscheinlich gilt – und im Durchschnitt bei über 63 Dollar pro Barrel bleiben, soll die Auszahlung in den nächsten Jahren um sieben Monate verzögert werden.

Durch die Verzögerung erleiden die Lohn- und Gehaltsempfänger sowie die Rentner in den Jahren 2006 bis 2009 eine Einbuße von insgesamt einem halben Monatseinkommen (49 Prozent); beziehungsweise 60 Prozent eines Monatseinkommens, falls die Auszahlung durch die hohen Erdölpreise zusätzlich verzögert wird.Wer beispielsweise monatlich rund den doppelten Mindestlohn (3 000 Euro brutto) verdient, erfährt eine Einbuße von 1 482 Euro in den vier Jahren oder von 1 794 Euro, falls die Auszahlung um sieben Monate verzögert wird. Beim etwa vierfachen Mindestlohn (6 000 Euro brutto), macht die Einbuße 2 965 Euro, beziehungsweise3 587 Euro aus. Laut „konservativen Regierungsberechnungen“,so der Premier, beliefen sich die Einsparungen auf der Lohnsummebis Ende 2009 auf insgesamt 700 Millionen Euro, der Staat spare 220 Millionen Euro.

Neben dem, was Juncker eine „Indexmodulation“ nannte und in den Achtzigerjahren „Indexmanipulation“ hieß, wird der automatischeAusgleich des Preisanstiegs noch durch weitere Maßnahmen gebremst: Taxen und Akzisen von Staat und Gemeinden werden faktisch aus dem Warenkorb entfernt, wenn ihre Schaffung oder Erhöhung sich umwelt-, gesundheits- oder sozialpolitisch rechtfertigen lassen. Dazu zählen die geplanten Erhöhungen des Wasserpreises und die Verteuerung des Autofahrens. Nächstes Jahr will die Regierung dann auch Tabak und Alkohol aus dem Warenkorb entfernen, mit dem die Indexentwicklung gemessen wird. Außerdem werden Kindergeld und Erziehungspauschale nicht mehr an die Geldentwertung angepasst. Mit der Desindexierung des Elternurlaubs wird erstmals ein Ersatzeinkommen gar nicht mehr an die Geldentwertung angepasst.

Die Unternehmerverbände hatten in der Tripartite an eine alte Forderung verschiedener Gewerkschaften angeknüpft und eine maximale Indextranche in Höhe des anderthalbfachenMindestlohns oder derzeit 56,38 Euro gefordert. Nach Berechnungen der Regierungen wären so Einsparungen von 850 Millionen Euro entstanden, statt 700 Millionen nach der nun zurückbehaltenen Lösung; Betriebe mit hoch qualifizierten, gut bezahlten Angestellten hätten mehr davon profitiert als jene, die kaum mehr als den Mindestlohn zahlen. Die Gewerkschaften befürchteten, dass eine Höchstindextranche eine endgültige Änderung des Indexmechanismus darstellen würde, währendden nun beschlossenen Verzögerungen noch etwas Vorübergehendes anhaftet.

Juncker bedankte sich am Dienstag bei den Gewerkschaften für ihre „Kraftanstrengung“ und ihr „Verantwortungsgefühl“ (S. 12). Dass ihm jene friedfertige Indexmanipulation gelingt, die Pierre Werner nicht fertig brachte, mag damit zusammenhängen, dass in den liberalen Neunzigerjahren die Gewerkschaften sich in ihr Schicksal ergaben und die Verteidigung der Wettbewerbsfähigkeit des nationalen Produktionsstandorts als oberstes Staatsziel akzeptierten. Im Gegensatz zu dem von Stahlkrise und Abwertung getriebenen Pierre Werner, konnte Juncker sich den Zeitpunkt auswählen: nach dem Referendum über den europäischen Verfassungsvertrag und nach den Gemeindewahlen.

Vor allem aber konnte er sich eine Koalition mit der LSAP und deren befreundeten Gewerkschaften aussuchen. 1982 waren die Sozialisten in der Opposition, trotzdem begingen sie am Streiktag lieber Saalflucht, als gegen das Gesetz zu stimmen. So kamensie, nach allen Seiten offen, dank des Index 1984 für 15 Jahre wieder in die Regierung.

Im Jahr 2009 dürfte es also, nach dem einen oder anderen Rentenwahlkampf in der Vergangenheit, wieder, wie 1984, einen Indexwahlkampf geben. Siegeschancen wird haben, wer das Ende der Modu- und Manipulationen verspricht. Wird die Inflation wieder niedrig genug sein, dass ohnehin kaum noch Indextranchen fällig werden, wird er sein Versprechen vielleicht sogar halten können. 

Romain Hilgert
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