Die Resultate der von Arbeitsminister Georges Engel in Auftrag gegebenen Studie zur Arbeitszeitverkürzung sind zweideutig. Vielleicht reichen sie aber aus, um die Wahlforderung der LSAP nach einer 38-Stunden-Woche zu legitimieren

Evidenzbasierter Sozialismus

Protestaktion der Gewerkschaften am 21. Dezember 1958 auf  dem Knuedler
Photo: Archives OGBL
d'Lëtzebuerger Land du 28.04.2023

Naturgesetz Seit CSV-Arbeitsminister Jean Dupong vor 50 Jahren in einer Koalition mit der DP die 40-Stunden-Woche eingeführt hat, ist sie in Luxemburg gewissermaßen Naturgesetz. Weniger zu arbeiten, kommt für das liberalistische Patronat und ihm nahestehende politische Parteien nicht in Frage, wie DP-Premierminister Xavier Bettel vor zwei Wochen und UEL-Präsident Michel Reckinger in dieser Woche erneut verdeutlicht haben. Eigentlich ist die Frage nach der Arbeitszeit vor allem eine sozialphilosophische. Eine über gutes Leben und die Freiheit, an der Gesellschaft teilzunehmen – jenseits der Zwänge von Erwerbsarbeit und Lohnabhängigkeit. Geführt wird die Diskussion aber lediglich auf wirtschaftspolitischer Ebene. Daran ändert auch die Studie „mit dem inoffiziellen Untertitel Wéi hale mer eisen Aar-bechtsmaart attraktiv?“ nichts, die LSAP-Arbeitsminister Georges Engel vor einem Jahr beim Liser in Auftrag gegeben und am Dienstagnachmittag – eine Woche vor dem 1. Mai – in seinem Ministerium vorgestellt hat (eine weitere Liser-Studie über Kollektivverträge will Engel in den nächsten Wochen präsentieren).

Eine empirische Erhebung haben die Forscher/innen nicht durchgeführt. Vielleicht fehlte ihnen dazu die Zeit, weil die Analyse vor den Wahlen fertig werden musste. Sie haben sich auf andere Studien berufen, die vorwiegend in den Nachbarländern gemacht wurden, wo die 40-Stunden-Wochen schon vor 20, 25 oder 40 Jahren unterschritten wurde. Sie haben herausgefunden, dass 2022 in Luxemburg durchschnittlich 1 701 Stunden gearbeitet wurden gegenüber 1 677 in Deutschland (mit einer in Tarifverträgen ausgehandelten durchschnittlichen Arbeitszeit von 37,7 Stunden pro Woche), 1 544 in Frankreich (mit einer gesetzlichen 35-Stunden-Woche) und 1 495 in Belgien (mit einer gesetzlichen 38-Stunden-Woche). In Achtstundentagen ausgedrückt arbeitet ein durchschnittlicher Arbeitnehmer in Luxemburg jährlich 213 Tage, in Deutschland 210, in Frankreich 193 und in Belgien 189.

Mit einer komparativen Methode haben die Liser-Forscher/innen versucht, die Resultate von Studien aus den Nachbarstaaten auf den Luxemburger Kontext zu übertragen und daraus die theoretischen Herausforderungen und Risiken einer potenziellen Arbeitszeitverkürzung abzuleiten. Generell kommen sie zu dem Schluss, dass die Folgen sowohl für die Lebensqualität und die Gesundheit der Beschäftigten, als auch für die Produktivität und Attraktivität der Wirtschaft nicht eindeutig abzuschätzen seien. Das Adjektiv ambigu (in Kombination mit dem Begriff effet) und das Substantiv ambiguité kommen insgesamt 17 Mal in der Studie vor. Am Ende wirft sie mehr Fragen auf, als sie beantwortet.

Zwar stellen die Forscher/innen fest, dass eine Arbeitszeitverkürzung positive Auswirkungen auf Wohlbefinden und Gesundheit insbesondere von Frauen haben könnte, indem sie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessern und die Möglichkeiten zu einer gerechteren Aufteilung der Haushaltsarbeit erweitern, den reellen Stundenlohn erhöhen und Phänomene wie Stress und Erschöpfung lindern könne. Gleichzeitig könne sie jedoch die Arbeitsbelastung und -intensität (etwa durch zusätzliche Überstunden und unregelmäßige Arbeitszeiten) steigern und die Karriereperspektiven verringern.

Auch im Bereich der Produktivität und der Schaffung neuer Arbeitsplätze sind die Resultate zweideutig. Einerseits seien gesunde und zufriedene Beschäftigte leistungsfähiger, andererseits könne die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen wegen steigender Lohnkosten durch zusätzliche, höher bezahlte Überstunden sinken, was wiederum zur Abwanderung von Firmen ins Ausland führen könne.

Müßiggang Mit ihrer Analyse haben die Forscher/innen des Liser die gesellschaftliche Diskussion „akademisiert“. Die Argumente für oder gegen die Arbeitszeitverkürzung sind seit über hundert Jahren mehr oder weniger die gleichen. Die politischen Fronten auch. Im November 1970, als die Abgeordnetenkammer auf der Grundlage von ausführlichen Berichten des parlamentarischen Sozialausschusses und des Wirtschafts- und Sozialrats über den Gesetzentwurf zur Einführung der 40-Stunden-Woche diskutierte, waren die DP und der wirtschaftsliberale Flügel der CSV schon dagegen. Der liberale Abgeordnete René Mart befürchtete, dass die Betriebe wegen der Arbeitszeitverkürzung zusätzliches Personal einstellen müssten. Dadurch nehme der Fachkräftemangel weiter zu und die Lohnkosten würden steigen, was sich auf die Warenpreise und die Inflation auswirken würde, mutmaßte Mart. Nicht zuletzt würden kleine und mittlere Firmen sowie das Handwerk am meisten unter der Maßnahme leiden (drei Viertel aller Betriebe in Luxemburg haben weniger als fünf Mitarbeiter/innen, fünf Prozent haben mehr als 50 Beschäftigte). Der CSV-Abgeordnete Georges Margue wollte mit seiner Opposition gegen die 40-Stunden-Woche die Arbeiter vor sich selbst schützen, als er meinte: „Mir crée’eren duerch den obligatoresch(e) Me’sseggank forcément nei Besoins’en, well eng ganz Partie Leit wëssen sech dach net anescht ze hellefen, we’ datt se dann erausgin an zo’sätzlech Dépenses’en machen.“ Zudem befürchtete er einen Anstieg der Schwarzarbeit. Fraktionspräsident Tony Bourg warf ein, dass Margue nicht im Namen der CSV rede. Bei der Abstimmung unterstützten alle Abgeordneten den Gesetzentwurf, der die 44-Stunden-Woche ab 1971 und die 40-Stunden-Woche ab 1975 in Etappen einführte.

Das Gesetz von 1970 war ein in zähen Verhandlungen erzielter Kompromiss. Jahrelang hatten die damals noch einflussreichen Gewerkschaften und Arbeitnehmerkammern mit Kampagnen und Streikaktionen für eine Verkürzung der Arbeitszeit – erst auf 48, dann auf 44 und schließlich auf 40 Stunden – gekämpft. Der legislative Prozess zur Einführung der 40-Stunden-Woche hatte Mitte der Sechziger unter den beiden LSAP-Arbeitsministern und LAV-Gewerkschaftern Nic Biever und Antoine Krier begonnen. Nach dem Regierungswechsel von 1969 setzten CSV und DP ihn fort, änderten den ursprünglichen Entwurf aber noch mehrmals ab. Parlamentarischer Berichterstatter des finalen Gesetzentwurfs war der CSV-Abgeordnete Jean Spautz, der gleichzeitig Vorsitzender des LCGB war. Für die LSAP sprach der Abgeordnete Benny Berg, Präsident des LAV. Den Weg für das Gesetz geebnet hatten Kollektivverträge in den größeren Betrieben.

In den vergangenen Jahren hat es keine breite gesellschaftliche Bewegung für die Einführung einer gesetzlichen Arbeitszeitreduzierung gegeben. Zwar fordert der OGBL sie seit der Tripartite von 1998 als Gegenleistung für die Flexibilisierung der Arbeitszeiten, die 1999 mit dem Pan-Gesetz (Plan national en faveur de l’emploi) und dem Pot (Plan dorganisation du travail) eingeführt wurde, doch umgesetzt wurde sie nie. Gesetzlich möglich ist sie allerdings schon im Rahmen von Tarifverträgen. Der am Mittwoch vorgestellten Liser-Studie zufolge wird davon jedoch kaum Gebrauch gemacht: Lediglich im Branchen-Kollektivvertrag für den Krankenhaussektor haben die Sozialpartner eine 38-Stunden-Woche vereinbart, ferner haben zwei Firmen aus dem Einzelhandel in ihrem Betrieb eine Arbeitswoche von 39,5 Stunden eingeführt.

Auch wenn der OGBL sie in seinen Ansprachen und Broschüren regelmäßig übernimmt und sie zu den (intern nicht unumstrittenen) Hauptforderungen der Plattform für Frauenrechte Jif gehört: Oberste Priorität hat die gesetzliche Arbeitszeitverkürzung für die Gewerkschaften heute nicht. Ihre letzte größere Kampagne für die Reduzierung der Arbeitszeit fand 2015 und 2016 im Vorfeld der Anpassung des Pan-Gesetzes statt. Bei Verhandlungen im April 2016 hat der damalige Arbeitsminister Nicolas Schmit (LSAP) die Referenzperiode, während der die legale Arbeitszeit überschritten werden darf, zwar von einem auf vier Monate ausgedehnt (im Rahmen von Tarifverträgen und in vom Arbeitsminister zu genehmigenden Ausnahmefällen sind bis zu zwölf Monate erlaubt), im Gegenzug hat er den Gewerkschaften aber bis zu dreieinhalb zusätzliche Urlaubstage zugestanden. LCGB-Präsident Patrick Dury sagte am Montag gegenüber RTL, es müsse nach Lösungen in den Betrieben gesucht werden; er hätte sich gewünscht, dass die Sozialpartner in die Ausarbeitung der Studie mit einbezogen worden wären.

Tag Team Die aktuelle Diskussion über die Arbeitszeitreduzierung wurde vom sozialpolitischen Tag Team der LSAP lanciert. Am 21. März 2022 wollte der frühere Arbeitsminister Dan Kersch von seinem Nachfolger Georges Engel in einer erweiterten parlamentarischen Anfrage wissen, was der von einer Arbeitszeitreduzierung hält. Etienne Schneider hatte schon im Wahlkampf von 2018 versprochen, die Beschäftigten müssten künftig zwei Stunden weniger arbeiten, wenn sie die LSAP wählen, doch in das Koalitionsprogramm der zweiten DP-LSAP-Grüne-Regierung schaffte es lediglich die vage und zweideutige Formulierung: „In der neuen Wirtschaft sind neue Formen der Arbeitsorganisation nötig, die Folgen für die Arbeitszeit haben. Die Arbeitnehmer haben andere Vorstellungen in Sachen Arbeitsorganisation und -zeit. Sie fordern mehr Autonomie und flexiblere Arbeitsformen.“ Um die Diskussion im Wahlkampf wiederzubeleben, gab Engel die Studie über die Vor- und Nachteile der Arbeitszeitreduzierung in Auftrag.

Der Ausdruck „neue Wirtschaft“ bezieht sich auf den Rifkin-Plan. Digitalisierung, Robotik und künstliche Intelligenz könnten die Einführung flexiblerer, aber auch kürzerer Arbeitszeiten künftig begünstigen und vielleicht sogar erfordern. Andererseits haben vor 60 Jahren ähnliche Annahmen zur Mechanisierung sich nicht bewahrheitet. Der DP-Abgeordnete René Mart glaubte 1970 daran, „datt an der Zukunft, eventuell an 20 Joer, a ville Betrieber wahrscheinlech nach manner we’ 40 Stonnen geschafft get, awer nëmmen an déne Betrieber, de’ stark mechanise’ert sin (…)“. Recht behalten sollte er nicht. Trotzdem scheint Arbeitszeitverkürzung seit einigen Jahren vor allem in Nordeuropa im Trend zu liegen. Die Liser-Studie geht nur kurz auf Experimente und Pilotprojekte ein, die in Island, Schweden, Dänemark und den Niederlanden durchgeführt wurden. Vor einem Monat wurden die Resultate einer Studie zu einem englischen Pilotprojekt einer Vier-Tage-Woche veröffentlicht, die größtenteils positiv ausfallen. Laut Liser könnten solche Experimente auch in Luxemburg nützlich sein.

Viele neue Erkenntnisse hat Georges Engels Studie nicht gebracht, wie auch die anderen Parteien am Donnerstag gegenüber dem Wort bemerkten: DP und ADR sind grundsätzlich gegen eine Arbeitszeitreduzierung, die CSV wohl auch. Dafür sind die Linke und eventuell auch die Grünen. Er habe die häufig emotional geführte Diskussion auf eine rationale Ebene bringen wollen, sagte Georges Engel am Mittwoch. Geklappt hat es bislang offensichtlich nicht, wie Michel Reckinger am Donnerstag im RTL Radio eindrucksvoll demonstrierte, als er dem Arbeitsminister vorwarf, „d’Antichamber vum OGBL“ zu sein, und sich über zusätzliche Urlaubs- und Feiertage und „Adaptatioune bei de Congés parentalen, postnatalen, d’accueilen, Blablabla“ beklagte, die in den letzten Jahren eingeführt worden seien. Anders als die LSAP weiß Reckinger, dass es in dieser Frage nicht um objektive Argumente geht, sondern um Klassenkampf.

Was jetzt mit der Studie passiert, ist nicht bekannt. Vor den Wahlen werde das Parlament jedenfalls nicht mehr darüber diskutieren, meinte der Minister auf Land-Nachfrage. Vermutlich war die DP dagegen, als er die Resultate im Regierungsrat präsentierte, und die Grünen tun sich schwer damit, sich eindeutig in der Frage zu positionieren. Nach den Wahlen wird das Dokument wahrscheinlich in einer Schublade verschwinden. Politische Schlussfolgerungen wollte oder konnte Georges Engel aus der Analyse am Mittwoch nicht ziehen, außer der, dass die LSAP die 38-Stunden-Woche auch dieses Jahr wieder in ihr Wahlprogramm schreiben werde. Interessant dürfte die Frage sein, ob und inwieweit die nicht sonderlich aufschlussreiche Studie LSAP-Spitzenkandidatin Paulette Lenert dabei helfen wird, eine „evidenzbasierte“ Entscheidung in der Frage nach der Notwendigkeit kürzerer Arbeitszeiten zu treffen.

Win-Win Damit die Umsetzung einer wie auch immer gearteten Arbeitszeitreduzierung gelinge, sei ein durchdachter und konstruktiver Sozialdialog unverzichtbar, betonten die Forscherinnen am Montag. Staatliche Unterstützung oder der Nachlass von Sozialbeiträgen für Betriebe ebenfalls. Deshalb sei es opportun, die Arbeitszeitverkürzung in Zeiten von Wirtschaftswachstum einzuführen. Ferner müsse sie von arbeitsrechtlichen Anpassungen begleitet werden, die verhindern, dass es zu einer Intensivierung der Arbeitslast – etwa durch eine hohe Anzahl an Überstunden – oder zu Lohneinbußen kommt. Nicht zuletzt müsse man sich darüber einig werden, ob die Arbeitszeitverkürzung kollektiv oder sektoriell umgesetzt werden soll.

Déi Lénk hatte schon 2018 ein Konzept vorgelegt, das diesen Empfehlungen teilweise Rechnung trägt. Es sieht die für Betriebe planbare progressive Einführung der 32-Stunden-Woche innerhalb von zehn bis zwölf Jahren vor, mit einer maximalen Wochenarbeitszeit von 40 (statt wie bisher 48) Stunden und einer sechsten Urlaubswoche. Begleitet werden soll sie von staatlichen Hilfen und einer Reform des Tarifvertragsgesetzes, die es den Sozialpartnern erlaube, branchenspezifisch auf Augenhöhe zu verhandeln. Paulette Lenert, Georges Engel und anderen Sozialist/innen ist diese Forderung wahrscheinlich zu extrem. Ihnen hat das Liser in einer Fußnote ein Angebot gemacht: „Une étude plus approfondie comprenant une analyse de données statistiques disponibles et/ou issues d’une enquête ad-hoc pour le Luxembourg et/ou une analyse de micro-simulation pourrait être proposée dans un second temps“. Sollte die LSAP in die nächste Regierung kommen, wird sie dieses Angebot vielleicht annehmen. Die Resultate könnten bis 2028 vorliegen, vorausgesetzt, sie trifft ihre Entscheidung etwas früher als anderthalb Jahre vor den Wahlen. Und das Liser dürfte auch davon profitieren. Zumindest finanziell.

Luc Laboulle
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