Der Sommer ist groß und stark

Heiß!

d'Lëtzebuerger Land vom 10.07.2015

Ein gnadenreicher Zustand überkommt uns. Zumindest jene, die nicht gerade in einem Straßengraben am Pressluftbohrer stehen, oder mit beladenen Tabletts beladen zu jenen an den Schattenplätzen robben. Alles wird so elementar, vor allem wir. Schweißbäche rinnen aus uns, Schweißströme, wir baden sogar in Schweiß. Manche reden etwas übertrieben poetisch von Schweißperlen, (wahrscheinlich tut das aber kein Mensch mehr, wahrscheinlich habe ich das zum letzten Mal 1910 in einem auf blütenweißen Büttenpapier verfassten Brief gelesen: „die Schweißperlen auf deiner Oberlippe“, ich erröthete dezent.)

Wir werden auf eine wundersame Art schlapp, schlaff, wir müssen nichts tun dafür, wir müssen nur nichts tun. Die Körperteile hängen unmotiviert an uns rum, wir hängen rum. Widerstand ist zwecklos. Wir schmelzen dahin, der erstrebenswerteste Zustand den es überhaupt gibt, wir müssen nicht mal den Liebestod dafür sterben. Sämtliche Motivationen kommen abhanden, kann sich jetzt zum Beispiel jemand vorstellen, ein Motivationsschreiben zu verfassen? Überzeugend schildern, warum er oder sie Tag und Nacht nur das eine im Kopf hat, nämlich ausgerechnet dieser oder jener Tätigkeit nachzugehen, mit nie erlöschender Begeisterung, zugleich umsichtig, selbstverständlich selbständig, aber ebenfalls mit Teamplayer-Qualitäten ausgestattet. Mit jedem Tag der Hitze werden wir griechischer oder afrikanischer, menschlicher.

Alles wird sehr, sehr einfach. Wir brauchen immer weniger Kleider, Schuhe, Ballaststoffe. Immer mehr von immer mehr Körperteilen kommt zum Vorschein. Alles wird immer realistischer, wahrscheinlich nennt man das surrealistisch. Krampfadern schlängeln sich, Puddingpickel drängeln sich, verpilzte Großzehennägel, verfilzte Haarnester, Achselhöhlen, aus denen es trieft, mieft. Gerüche, die uns daran erinnern, wer wir sind, was wir sind. Wir sind immer mehr wir, alles outet sich, nicht exhibitionistisch, sondern wahrhaftig, Goya und Bacon.

Es ist alles so hautnah, vor allem die anderen, wenn wir die Hazienda oder den Hitzebunker verlassen und uns unters einfache Volk mischen. Manche gehen herum, sie haben den Norden verloren, dafür haben sie den Süden gefunden, ein guter Tausch. Sie stehen an Straßenecken, sie murmeln etwas, was im Verkehrsstrom untergeht, im Schweißstrom. Es flimmert und flammt, der Himmel ist bleich, Rettungswagen kreisen wie Geier, wie Schutzengel. Einer schreit auf und stößt einem anderen einen spitzen Körperteil, beliebt sind Ellenbögen, in ein Weichteil, es gibt ein Geschrei, das aufflammt, ein Messer wird gerammt. Plötzlich liegt eine Leiche da, in der Wüste, alle staunen.

Ja, es kommt zu überraschenden Darbietungen, Autofahrern, die in einer tödlichen Waffe unterwegs sind, sollte man vorsichtig begegnen, am besten nicht auf einem Rad. Das könnte sie reizen, bis aufs Blut. Männern, die eine tödliche Waffe sind, sollte frau, so raten Freundinnen einander, buddhistisch begegnen, mit freundlicher Gelassenheit. Sie zum Beispiel grillen lassen.

Denn wenn das Blut erst mal in Wallung kommt. Und dann auch noch kocht. Zum Beispiel weil die Frau, nicht gekocht hat, oder etwas allzu Originelles. Auch die Volksseele kann verdammt schnell überkochen, überall kann man das beobachten. Und auf den Volkskörper kann man sich ebenfalls nicht verlassen, der hat bekanntlich sowieso nie einen kühlen Kopf.

Der Sommer ist groß und stark, stärker als wir, erschlagen liegen wir in Schattenpfützen. Heliograd.

Wir schauen den Griechen vor den Schaltern zu, wir schalten sie aus, es dauert so lang vor diesen Schaltern, wir schauen ineinander verschmolzene Knäuel auf einem Bergpass, wir nuckeln an einem Getränk, Gelsen nuckeln an unsern Hälsen.

Wir stehen in Gewässern, in katatonischer Verzückung, wir starren auf die Wasseroberfläche, auf denen winzige geflügelte Wesen ihr Wesen treiben. Wir werden immer stehen bleiben, wir können nicht mehr aufhören, nicht zu sein.

Michèle Thoma
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