Bürgerinitiative Wobrécken

Bürger, schützt eure Anlagen!

d'Lëtzebuerger Land vom 20.01.2000

Schön sieht er nicht aus, dieser Wohnblock. In den Sechziger- und Siebzigerjahren wurde er nach und nach aus fünf Einzelblöcken zusammen gebacken. Drei sind grau, einer rotbraun, einer beigefarben. In zwei Wohnblöcken liegen die Fenster bündig auf einer Höhe mit den Hauswänden; Balkone in Richtung Straße gibt es nur an einem der grauen Quader, ein anderes trägt vor den Fenstern kleine Ziergeländer und in der Mitte über dem Hauseingang und einen vier Stockwerke hohen, bescheidenen Erker, der nach vorn spitz zuläuft.

Offenbar erfolgte nicht nur im früheren Ostblock die preisgünstige Wohnraumproduktion mit geradezu dreister ästhetischer Bescheidenheit. Doch für die Bewohner der fünf Häuser an der Place Winston Churchill in Esch hat ihre Wohnlandschaft eine ganz eigene Qualität. Zum Beispiel für Familie Urth. Urths sind kleine Leute, Arbeiter. Der Mann war Schlosser bei der Arbed, muss jetzt ins Pflegeheim. Frau Urth muss Koffer packen, ist im Stress; vielleicht schimpft sie auch deshalb so laut. "Kommen Sie mal mit nach draußen", sagt die resolute Dame mit den kurzen Haaren und dem zitronengelben Wollpullover, "ich erkläre Ihnen dort alles."

Und dann beginnt sie zu erzählen. Seit zwei Jahren wohnen Urths nun hier, im Escher Quartier Wobrecken. Verrückt sei das, was die Gemeinde vorhat. Dichter bebauen will sie den Stadtteil. Die Place Churchill, die eine Sackgasse ist, und wo nur die Autos der Anwohner fahren, zur Durchgangsstraße machen. Wo doch 50 Meter vis-à-vis vom Häuserblock massiver Verkehr von und nach der nahe gelegenen Autobahn rollt. Noch trennt ein schmaler Park mit hübschen Nadelbäumen und Sitzbänken die Place Churchill von der stark befahrenen Straße. 

Aber wenn Frau Urth richtig informiert ist über das Bebauungsprojekt der Gemeinde, dann soll ein Teil des Parks sechsstöckigen Wohnhäusern Platz machen. "Und wo sollen die Leute dann spazieren gehen, wo sollen sie mit ihren Hunden hin, wo werden dann die Kinder spielen?" Frau Urth stemmt die Hände in die Seiten. "Dann ist es vorbei mit der Ruhe, und wenn die Autos hier fahren, wird es für die Kinder gefährlich, sobald sie nur aus dem Haus kommen."

Seit letztem Sommer spricht man über Wobrecken auch außerhalb von Esch. Anfang Juni hatte alles begonnen. Damals erfuhren die Bewohner aus der Zeitung von jenem Vorprojekt zur Bebauung. In der Minettemetropole wird freies Bauland immer knapper, die größten noch verbliebenen Flächen befinden sich in Privatbesitz, die allergrößten sind die Industriebrachen der Arbed, deren Schicksal nach wie vor ungewiss ist.

Darum also Wobrecken. Die Eigentumsverhältnisse sind hier viel einfacher; weite Teile des Viertels gehören der Gemeinde. Zwar hat so manche Familie eine Eigentumswohnung erworben; Familie Urth auch. In dem Häuserblock an der Place  Churchill aber sind überwiegend normale Mieter zu Hause. Wo Familie Urth einen Wertverfall ihrer Eigentumswohnung kommen sieht, sollte das Bebauungsprojekt realisiert werden, fürchten die Mieter den Verfall ihrer Lebensqualität. "Wir zahlen monatlich 30 000 Franken für unserer Dreizimmerwohnung", sagt Nathalie Jonas, eine junge Frau mit zwei Kindern aus dem vierten Stock in Haus Nummer 7. "Das ist viel Geld. Ich denke, für die Ruhe hier bezahlen wir mit. Wenn die verloren geht, ziehen wir weg." Das ist auch für René Muller nicht ausgeschlossen. "Wir Mieter sind doch die schwächste Partei." Er wohnt schon seit 21 Jahren hier und hat das Wachsen des Häuserblocks an der Place Churchill miterlebt. Immer mehr Menschen zogen zu. Dass im Quartier 120 zusätzliche Wohnungen gebaut werden sollen, ist für ihn keine angenehme Vorstellung. Das würde nochmal so viele Menschen nach Wobrecken bringen. 

Alle haben sie im Sommer die Petition "Rettet Wobrecken!" unterschrieben. Mitte September wurde die gleichnamige Bürgerinitiative gegründet. Vielleicht war es ein Glück für die Wobreckener, dass Nelly Moia damals noch an der Place  Churchill ein Appartment bewohnte. Die Luxemburg-weit bekannte pensionierte Englisch-Professorin, Tierschützerin und Buchautorin, eine der eifrigsten Leserbriefschreiberinnen des Großherzogtums, die Tag und Nacht Bürger wach rütteln könnte, hatte mit zwei anderen Frauen aus dem Viertel die Sache ins Rollen gebracht. "Königsmörderin" nannte sie das Satiremagazin Den Neie Feierkrop, weil es nicht ausgeschlossen ist, dass Eschs sozialistischer Bürgermeister François Schaack die Gemeindewahlen am 10. Oktober auch wegen Wobrecken verloren hat. Für Frau Urth steht das sogar fest. "Und wer weiß, wie die Neuwahlen ausgehen, wenn es welche gibt. Wahrscheinlich wird dann noch mehr panaschiert. Schließlich hat die CSV das Projekt doch auch mitgetragen!" Ob die Bürger die Bebauung werden verhindern können? Frau Urth ist skeptisch. Aber bauen, das sollte man lieber auf der anderen Seite der viel befahrenen Straße. "Die Kleingärten, die da stehen, die könnte man wegmachen. Das sind gar keine richtigen Gärten mehr, nur noch Chaos. Da gehen die Kinder im Sommer Beeren klauen und die Portugiesen machen Barbecue." Dass die Gärten und die angrenzenden Nonnenwiesen ohnehin auf der Bebauungsliste der Gemeinde stehen, weiß Frau Urth nicht.

Weil der Ausgang der Wahlen in der Minette-Metropole Esch zur politischen Blockade führte, hat die Bürgerinitiative "Rettet Wobrecken!" unversehens noch mehr Gewicht erlangt, als ihre Mitglieder anfangs dachten. Was anscheinend kein so unangenehmes Gefühl ist. Extra für den Reporter hat sich das Komitee der Bürgerinitiative im Haus von Viviane Baumert, der Präsidentin, getroffen. Hier, in jenem Teil Wobreckens, in dem nur kleine Häuser stehen, darunter viele Eigenheime, wäre man zwar nicht derart unmittelbar betroffen von den Veränderungen, die eine zusätzliche Bebauung des Viertels mit sich brächte, wie am Churchill-Platz. Aber trotzdem. Und Mitglieder aus dem Fünfer-Wohnblock hat die Bürgerinitiative schließlich auch: das Ehepaar Pick zum Beispiel. Frau Pick ist sogar die Sekretärin der Bürgerinitiative.

Rasch sind die Sorgen von "Rettet Wobrecken!" zusammengefasst. So manche Zeitung hat ja schon berichtet, und auch Marc Thoma von RTL war hier und hat in Wobrecken "De Nol op de Kapp" geschlagen. Dass es ihnen gelingen wird, die Bebauung des Viertels in der geplanten Form zu verhindern, steht für die Mitglieder der Bürgerinitiative fest. Bis im Gemeinderat eine regierungsfähige Koalition gebildet worden ist, liegt das Projekt auf Eis. "Die Leute draußen mögen pessimistisch sein", ruft Präsidentin Baumert kämpferisch, "wir sind es nicht."

Herr Calmes, der pensionierte Beamte mit dem enzyklopädischen Gedächtnis und dem Hang, die Probleme auf einer höheren politischen Ebene zu analysieren, sieht "Rettet Wobrecken!" gegenüber der Gemeinde sogar am längeren Hebel. Herr Pick, der Ehemann der "Rettet Wobrecken!"-Sekretärin, ebenfalls: "Wir haben viel gelernt in den letzten Monaten. Über Tiefbauvorschriften und Grundwasserprobleme, über die Funktionsweise einer Gemeindeverwaltung und  über Genehmigungsprozeduren." Damit will man die Gemeinde packen und den für Wobrecken aufgestellten Teilbebauungsplan anfechten. Vorbild im Kampf gegen eine mächtige Ämterbürokratie ist für die Wobreckener die Anti-Haebicht-Initiative in Mamer.

Bei so viel Siegeszuversicht ist nun die Zeit gekommen, prinzipiell zu werden, und das fällt den Vordenkern der Bürgerinitiative nicht schwer. Liegt doch in Esch so vieles im Argen: 30-Stundenkilometer-Zonen wurden eingerichtet, ohne sich Gedanken zu machen, wie man die Einhaltung des Geschwindigkeitslimits überwachen will. Der öffentliche Nahverkehr funktioniert nicht richtig, die Busse des TICE werden nicht gut gewartet. Präsidentin Baumert kennt den Grund: "Der TICE-Verbund ist überpolitisiert. Jeder verfolgt da eigene Interessen."

Rasch wird die Diskussion lebhaft. Bürger reden ernsthaft über Politik, könnte das Thema dieses Nachmittags sein. Immer wieder muss Herr Calmes eingreifen und daran erinnern, dass man nun aber doch ein bisschen weit ab von Wobrecken komme. "Wir haben doch heute einen Journalisten hier." 

Doch politisches Gewicht zu haben und den Gang der Dinge beeinflussen zu können, tut offenbar gut. Würde in Esch angesichts der verkorksten Situation nach der Kommunalwahl vom Oktober plötzlich die Anarchie ausgerufen, diese Bürgerinitiative wüsste viele Dinge, die zu tun sind. Könnte man meinen. "Nun ja", sagt Herr Calmes, "die Wahlgeschichte ist schon ein gutes Umfeld, um mitzudenken." Eigentlich müsse in Esch endlich mal ganz grundsätzlich über Bebauungsfragen geredet werden, schließlich gibt es neben Wobrecken noch andere umstrittene Projekte. Die Nonnenwiesen, den "Bouwenacker". Die Gemeinde habe nicht genug Weitblick; dass Bürgermeister Schaack gesagt hat, was in zehn Jahren in Esch sein wird, interessiere ihn nicht, finden in der Bürgerinitiative alle skandalös.

Ob sie dem Bürgermeister vielleicht doch den Wahlsieg vermasselt haben? "Ach was", sagt Herr Calmes, "in einer Demokratie gibt es nach spätestens zwölf bis 14 Jahren immer einen Wechsel. Das ist ganz normal. Und der Herr Schaack ist mittlerweile 72, vielleicht war die verlorene Wahl sogar zu seinem Besten und wir haben dazu beigetragen!"

"Aber die Leute, die nach ihm kommen, sind auch nicht besser", gibt Herr Bassing zu bedenken.

"Aber wir sind frisch!", ruft Präsidentin Baumert. Und dann gibt sich "Rettet Wobrecken!" einer entspannten Rückschau hin und lässt die Bürgermeister der Vergangenheit mit ihren Gut- und Missetaten Revue passieren. Ab und zu schaut Frau Baumerts kleiner Sohn herein und streichelt den Pudel von Frau Pick.

Als man schließlich auseinander geht, ist die Rede davon, dass die älteren Mitglieder der Bürgerinitiative doch dann und wann auf die Kinder der jüngeren aufpassen könnten. Noch herrscht in der Bürgerinitiative das formelle Sie-Verhältnis, aber auch privat sieht man sich öfter. 

Vielleicht besteht der bleibende Wert der "Rettet Wobrecken!"-Initiative ja darin, Leute zusammen gebracht zu haben, Bauplan hin, Bauplan her. "Das ist schon komisch", sagt Präsidentin Baumert, "gäbe es dieses Projekt nicht, hätten wir uns womöglich nie kennen gelernt. Dabei wohnen wir doch gar nicht so weit auseinander."

Peter Feist
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