Top-Gesunde

Totalitäre Gesundheit

d'Lëtzebuerger Land vom 16.09.2016

1985 flimmerten zur Prime Time die Darmabschnitte des amerikanischen Präsidenten über die Bildschirme. Die Quer- und Durchschnitte, das Segment des abgeschnittenen Darms waren klar markiert. Die Öffentlichkeit konnte sich ein präzises Bild vom Innenleben des mächtigsten Mannes der Welt machen. Genauso radikal ging seine Frau Nancy wenig später mit ihrem Brustkrebs um. Es war kein Geheimnis, wieviel davon warum unters Messer kam. Spekulationen und Gerüchte wurden verbannt, der Feind benannt, ihm wurde der Kampf angesagt.

Ein Befreiungsschlag in einer Zeit, als Krebs das Tabu war, das selbst den Betroffenen oft verheimlicht wurde. Dass eine prominente Frau sich zu einer Krankheit bekannte, die so viele ihrer Geschlechtsgenossinnen (be)traf, machte sie zum Role Model. Für jemand an der Spitze einer Weltmacht war und bleibt diese Haltung riskant. Angesichts aggressiver Spekulationen bleibt zwar nur die Offensive. Aber wird das Aussprechen des Krebswortes schaden oder nützen?

Abhängig ist das wohl davon, ob damit Heilungschancen und Kampfgeist oder ein Todesurteil assoziiert werden. Nützen mag es, weil es den Staatsmenschen darstellt als einen, der um sein Leben kämpft wie alle. Es macht ihn oder sie zum Menschen. Aber wollen die Menschen, die ja alle Menschen sind, so ein unzulängliches, ausgeliefertes Wesen an der Spitze? Sehnen sie sich nicht nach Superwoman, der ewigen Mutti, dem unsterblichen Leader? Nach jemand mit übermenschlichen Kräften? Der oder die kämpft – aber vor allem für sie und nicht hauptsächlich um das eigene Überleben?

In einer Diktatur mag der Präsident schon längst verblichen sein oder nur noch vage Lebenszeichen von sich geben; das Volk mag, selbst wenn es den faulen Zauber längst gerochen hat, die vom Regime präsentierte Attrappe weiter anbeten. In Algerien wird die Präsidentenmumie immer noch vor den Wahlen ausgestellt, anscheinend beruhigt sie. Der medial verschollene Kim Jong-il, der wilde Tiere gern mit seinen Verwandten fütterte, regte westliche Fantasien an. Dann hieß es, er habe lediglich gehinkt. Auch das Auftreten eines Tyrannosaurus Rex ist Marketing-Mindeststandards unterworfen, selbst im Tierreich darf der Leitwolf keine Schwäche zeigen. Humpeln ist nicht imagefördernd.

In einer offenen Gesellschaft wird der Mensch an der Spitze von Millionen bösartiger kleiner Brüder und Schwestern überwacht, er ist Blick und Klick ausgesetzt, einer medialen Dauerattacke. Er wird geteilt, zerfetzt, zum Fraß vorgeworfen. Rettungsringe, Toupet, Falten werden genüsslich auf Hochglanz serviert, jeder Pickel wird zum Vulkan. Nach der Krim-Invasion wurde Putin mit dem hochinvasiven Bauchspeicheldrüsenkrebs belegt. Bei Hillary Clinton sind für Entscheiderinnen entscheidende Körperbestandteile betroffen, Gehirntumor und Demenz, mindestens, unter anderem. Ihre Parteitagsrede im Juli lieferte dafür keine Indizien, sicher verstellt sie sich, sie ist ein pathologischer Kontrollfreak. Dass sie all das nicht hat, soll sie erst mal beweisen! Sie muss nicht nur ein gutes Bild abgeben, das Totale Röntgenbild gehört auf den Runden Tisch.

Im verhaltensoriginellen österreichischen Präsidentschaftswahlkampf trat der Eigentlich-schon-und-dann-doch-nicht-Bundespräsident Van der Bellen zur dritten Runde mit einem Gesundheitszeugnis an, die Krebsverschwörungstheorien wucherten. Was sind schon akademische Abschlüsse und politische Erfahrung? Nur wer ein Top-Gesundheitszeugnis vorzeigen kann, kann in die Top-Liga aufsteigen: Blutwerte entscheiden über Börsenwerte, auf Reagans Darmkrebs-Outing folgte eine Geldkreislaufschwäche. Eine „Superlunge“ bescheinigte ein bekannter Primararzt dem bekennenden Kettenraucher Van der Bellen in den Abendnachrichten, die Van-der-Bellen-Liga atmete auf.

Churchills berühmtes Sport-No-Go ist schon in den Neunzigern von joggenden Staatschefs überholt worden. Blondierte Möchtegernhäuptlinge weisen hämisch auf Abnutzungserscheinungen reifer Mitbewerberinnen hin. Jeder Niesanfall birgt Fatales. Letales. Potenzieller Vorbote des Totalausfalls. Ohnmächtig werden darf eine Mächtige niemals.

Menschen, die nur Menschen sind, können sich nur wundern, dass es Willige gibt, die sich so durch die Medienmanege treiben lassen. Die müssen echt eine gute Kondition haben!

Michèle Thoma
© 2023 d’Lëtzebuerger Land