Obwohl Ministersohn, ist Marc Spautz (CSV) noch einer der wenigen Abgeordneten mit Gewerkschaftsvergangenheit.
Im Interview spricht er über die Tripartite, die „neue“ CSV und ihren christlich-sozialen Flügel

„Die Kammer ist kein Spiegelbild der Gesellschaft mehr“

d'Lëtzebuerger Land du 08.07.2022

d‘Land: Am 7. April sagten Sie in einem Interview mit RTL: „De fréiere Premier Jean-Claude Juncker hätt versicht, bei der Tripartite all d᾽Partner mat an d᾽Boot ze kréien.“ Hätte ein Premier Claude Wiseler auch versucht, den OGBL mit an Bord zu bekommen?

Marc Spautz: Das müssen Sie Claude Wiseler fragen. Wenn die CSV in der Regierung wäre, hätten wir jedenfalls früher mit den Tripartite-Verhandlungen begonnen. Schon im Herbst 2021 sind die Energiepreise gestiegen, wenn auch nicht so explosionsartig wie seit Beginn des Ukraine-Krieges. In der Kammer haben wir über Lieferengpässe nach Corona diskutiert, die Inflation hat sich angekündigt. Deshalb hat die CSV schon damals in Absprache mit den Gewerkschaften eine Tripartite gefordert. Hätte man früher damit angefangen, wäre es zu einer globalen Übereinkunft gekommen, weil man sich gegenseitig besser verstanden hätte. Man kann nicht immer behaupten, dass man für den Sozialdialog sei, und dann erst damit beginnen, wenn das Haus schon brennt.

War die Forderung nach einer Tripartite im Herbst eine von Ihnen persönlich oder von der CSV insgesamt?

Ich weiß ja, wo ich herkomme, deshalb war es für mich klar, dass man rechtzeitig mit den Verhandlungen beginnen müsse. Die Diskussionen zur Einführung des Einheitsstatuts haben sich damals (2006-2008; Anm.d.Red.) über Monate hingezogen. Wenn man nach wenigen Tagen schon ein Resultat will, wird es schwierig.

Die CSV-Staatsminister Jacques Santer und Jean-Claude Juncker fühlten sich dem sozialen Flügel der CSV verbunden. In ihrer Politik hat sich das vielleicht nicht immer widergespiegelt, doch zumindest gab es ein klares Bekenntnis. Wie ist das heute in der CSV?

Als ich 2004 ins Parlament gewählt wurde, saßen dort noch mehr Angeordnete mit einer gewerkschaftlichen Vergangenheit. Mit denen vom OGBL und vom FNCTTFEL und Gast Gibéryen von der NGL waren wir zu zehnt. Heute sind wir nur noch zu dritt: Ali Kaes, Jeff Engelen und ich. Ob die CSV 2023 noch Kandidaten mit einem gewerkschaftspolitischen Profil finden wird, muss sich in den nächsten Monaten zeigen. Wenn es nicht gelingt, wäre das schlecht für die Politik, nicht nur was die CSV anbelangt, sondern insgesamt. Die Kammer ist kein Spiegelbild der Gesellschaft mehr.

Im Südbezirk war der christlich-soziale Flügel traditionell am stärksten vertreten. 2009 stellte er mit Jean-Claude Juncker, François Biltgen, Robert Weber, André Zwally und Ihnen fünf Kandidaten auf der Südliste. 2018 waren nur noch Sie und Pierrot Feiereisen dabei. Was ist in den vergangenen 20 Jahren passiert?

Jean-Marie Halsdorf war früher auch LCGB-Delegierter bei der Angestelltenkrankenkasse, das wird oft vergessen. Doch es stimmt, dass immer weniger Gewerkschafter sich politisch engagieren. Der Hauptgrund dafür ist wohl der statutarische Beschluss vom OGBL und später auch vom LCGB, dass die Mitgliedschaft in der Gewerkschaftsführung nicht mit einem politischen Mandat vereinbar ist. Meiner Meinung nach war diese Entscheidung ein Fehler, weil die Gewerkschaften damit die direkte Verbindung zwischen ihnen und der Kammer gekappt haben und ihre Einflussmöglichkeiten gesunken sind. Das ist weder gut für das Land noch für die Wirtschaft. Wenn wir es nicht schaffen, dass wieder mehr Gewerkschafter sich in Parteien engagieren, geht der sozialpolitische Anspruch in der Kammer vollständig verloren.

Wie einflussreich ist der arbeitnehmerfreundliche Flügel in der CSV heute? Wer gehört noch dazu?

Wenn ich mir ansehe, was wir noch alles bewirken können, denke ich, dass wir noch einen gewissen Einfluss haben. Aber es ist sicherlich nicht mehr wie früher. Neben Ali Kaes, Jean-Marie Halsorf und mir fällt mir noch Paul Galles ein, der zwar eher aus der Caritas-Ecke kommt. Diese Politiker stehen noch im alltäglichen Austausch mit den Leuten und wissen, was auf dem Terrain läuft. Bei den Jüngeren denke ich an Christian Weis und Maurice Bauer, die Sozialschöffen von Esch/Alzette und der Stadt Luxemburg. Darüber hinaus haben wir auch noch andere Mitglieder, die zwar vielleicht nicht aus dem Gewerkschaftsmilieu kommen, denen sozialpolitische Themen aber wichtig sind, auch wenn sie nicht in der ersten oder zweiten Reihe stehen. Wenn ich mir unsere Aktualitätsstunden, Amendements und Gesetzesvorschläge ansehe, stelle ich fest, dass wir sozialpolitisch immer noch sehr aktiv sind.

Die meisten dieser Initiativen gehen aber von Ihnen aus.

Von Paul Galles, Ali Kaes und mir, da muss ich Ihnen recht geben.

Die Geschichte der Rechtspartei und der CSV ist seit jeher geprägt von einem inneren Konflikt zwischen dem konservativen, unternehmerfreundlichen und dem christlich-sozialen arbeitnehmerfreundlichen Flügel. Wie gehen Sie persönlich mit diesem Widerspruch um?

Wir hatten immer einen gewerkschaftlichen Flügel, hauptsächlich im Süden, aber auch im Norden, in Wiltz, mit Emile Gerson. Dann gab es den landwirtschaftlichen Block, der auch im Süden zeitweise vertreten war, etwa in den 1950-er Jahren durch Joseph Lommel aus Differdingen. Daneben gab es den Mittelstandsflügel und in den 1960-er Jahren kam noch der des öffentlichen Diensts hinzu. Wenn es zwischen den Flügeln Meinungsverschiedenheiten gibt, diskutieren wir, manchmal auch heftiger, aber bislang konnten wir immer einen Kompromiss finden, auch wenn es nicht immer einfach war. Diese Diskussionen führen wir heute noch. Der Gewerkschaftsflügel ist inzwischen vielleicht personell nicht mehr so stark, aber er hat immer noch großen Einfluss. Ich bedauere vor allem, dass wir keinen Abgeordneten aus dem „normalen“ Mittelstand mehr haben – Handwerker oder kleine Geschäftsleute. Gott sei Dank arbeiten noch einige von ihnen in der Partei mit, denn die Stärke der CSV war es immer, einen Ausgleich und einen Kompromiss zwischen den vier Flügeln zu finden. Ich hoffe, dass uns das in Zukunft auch noch gelingen wird.

Solange die CSV stärkste Partei und in der Regierung war, hat dieser Ausgleich vielleicht Sinn gemacht.

In der politischen Mehrheit ist es natürlich leichter, Kompromisse zu finden. In der Opposition können verschiedene Themen schneller zu Spannungen führen.

Die politische Landschaft ist diverser geworden, mehrere Kleinparteien mischen inzwischen mit. Macht das die Situation für Volksparteien schwieriger?

Das Problem ist, dass unser gesellschaftspolitisches Bild sich verändert hat. Der klassische Arbeiter existiert nicht mehr seit der Einführung des Einheitsstatuts. Die Stahlindustrie spielt arbeitsmarkttechnisch nur noch eine untergeordnete Rolle und vor allem beschäftigt sie vornehmlich Grenzpendler ohne Wahlrecht. Luxemburger arbeiten fast nur noch im öffentlichen Dienst und im Dienstleistungssektor. Das beeinflusst auch die Parteien und führt dazu, dass Arbeiter politisch nicht mehr so stark repräsentiert sind, wie das früher der Fall war. Das wirkt sich natürlich auch auf die Wahlresultate aus.

Müssten die Parteien mehr Anstrengungen unternehmen, um Nicht-Luxemburger in ihre Reihen aufzunehmen, selbst wenn sie nur auf kommunalpolitischer Ebene wählen dürfen?

Als ich CSV-Generalsekretär war und Michel Wolter Präsident, haben wir die CSV International gegründet. Diese Unterorganisation wird immer größer und präsenter. Wenn nun das neue Gesetz in Kraft tritt, das es Ausländern ermöglicht, schon früher an den Gemeindewahlen teilzunehmen, müssen wir parteiübergreifend dafür sorgen, dass die Menschen diese Gelegenheit auch nutzen. Für mich ist es unverständlich, dass ausgerechnet die portugiesische Gemeinschaft – die größte, die wir in Luxemburg haben – am renitentesten ist, wenn es darum geht, sich auf Wählerlisten einzuschreiben. Vielleicht hat das auch historische Gründe, doch die Mobilisierung dieser Bevölkerung ist die Aufgabe aller politischen Parteien.

Die Zersplitterung der Parteienlandschaft hat dazu geführt, dass die CSV sich neu erfinden musste. Sie hat ihre Ideologie aufgegeben, das C und das S sind vielleicht nicht mehr so wichtig. Müsste die Partei sich nicht umbenennen?

Das C ist nicht mehr so katholisch, doch das S hat immer noch eine große Bedeutung. Wir orientieren uns weiterhin an der christlichen Soziallehre und der sozialen Marktwirtschaft, auch wenn wir jetzt ein neues Logo haben.

Das heißt, die Neuerfindung war vor allem ein Marketingtrick?

Das würde ich so nicht sagen, aber weil wir eben nicht mehr in der Regierung sind, ist es viel schwieriger geworden, unsere Standpunkte nach außen zu kommunizieren. Bestimmte Bevölkerungsteile haben wir zuletzt nicht mehr erreicht, was auch daran liegt, dass die Tagespresse heute viel weniger ausführlich über die Kammerdebatten berichtet, als das noch vor ein paar Jahren der Fall war. Deshalb versuchen wir, die Menschen auf anderen Wegen und mit neuen Methoden über unsere Alternativen zur Regierungspolitik zu informieren. Zuletzt war der Eindruck entstanden, die CSV habe keine Alternativen, dabei reichen wir sehr viele Amendements ein.

Die Amendements der CSV unterscheiden sich häufig nur geringfügig von den Vorschlägen der Regierung. Dadurch entsteht der Eindruck, dass die vier großen Parteien sich einander immer mehr annähern und sich in einer vermeintlichen „Mitte“ zusammenfinden.

Es stimmt, dass es für normalsterbliche Bürger immer schwieriger wird, die Unterschiede zwischen den großen Parteien zu finden. Das Ziel ist häufig dasselbe, doch der Weg dorthin ist manchmal ein anderer. Wir müssen nur aufpassen, dass wir im rechtsextremen Spektrum nicht zuviele Parteien bekommen, wie das in Frankreich der Fall ist.

Die CSV zeigte sich zufrieden mit dem Ausgang der Tripartite und hat als einzige Oppositionspartei das Gesetz mitgetragen. War das eine strategische Entscheidung, vielleicht auch im Hinblick auf mögliche Koalitionen für 2023?

Die CSV stand noch immer zum Sozialdialog, deshalb war es von Anfang klar, dass wir das Abkommen unterstützen würden, falls eines mit den Gewerkschaften gefunden würde. Wir wollten nur sichergehen, dass im Gesetz das gleiche steht wie im Abkommen: 2024 wird die verschobene Indextranche vom Juli ausbezahlt, wenn eine zusätzliche Tranche fällig wird, muss sofort wieder die Tripartite zusammenkommen. Die Kritik, die vom OGBL geäußert wurde, dass bestimmte Betriebe hohe Gewinne erzielt haben, ist durchaus berechtigt. Auf der anderen Seite stimmt es auch, dass manche Betriebe Probleme durch die Beibehaltung der automatischen Lohnanpassung bekommen hätten. Hätte die Regierung früher mit den Verhandlungen begonnen, hätte man auch andere Wege finden können.

Haben die Beziehungen zwischen CSV und LCGB durch das Tripartite-Abkommen und den anschließenden Besuch von Premier Xavier Bettel auf der 1. Mai Feier „Ihrer“ Gewerkschaft gelitten?

Ich bin vielleicht der Falsche, um diese Frage zu beantworten. Meine Beziehung zum LCGB hat sich durch den Besuch von Xavier Bettel nicht verändert.

Während der Stahlkrise in der zweiten Hälfte der 1970-er, als die CSV erstmals in der Opposition war, „radikalisierte“ sich der LCGB unter dem Vorsitz ihres Vaters Jean Spautz und beteiligte sich 1979 aktiv am Wahlkampf, was letztendlich dazu beitrug, dass die CSV die Wahlen gewann. Hätte man bei der Tripartite in diesem Jahr nicht eine ähnliche Allianz finden können?

Es ist nicht immer gut, wenn man nur Nein sagt, um Nein zu sagen. Als staatstragende Partei kann die CSV sich das nicht erlauben. In den Zeiten, als der LCGB-Präsident noch für die CSV in der Kammer saß, war die Verbundenheit natürlich größer. Das ist bei der LSAP aber nicht anders. Die haben heute auch keinen John Castegnaro oder Lucien Lux mehr in der Fraktion. Auch das tut dem politischen System nicht gut.

Als ausgebildeter Mechaniker sind Sie einer der wenigen verbleibenden Handwerker im Parlament. Inzwischen sind dort fast nur noch Juristen, Lehrer, Staats- und Gemeindebeamte zu finden. Fühlen Sie sich manchmal einsam?

Durch meine politische und gewerkschaftliche Arbeit weiß ich, dass in der Politik vor allem der gesunde Menschenverstand zählt. Den eignet man nicht über schulische Ausbildung, sondern durch Lebenserfahrung an. Meine Interventionen und Berichte sind genauso gut wie die der anderen Kollegen. Und auch bei der Rhetorik und der Themenbesetzung brauche ich mich nicht zu verstecken. Wenn wir aber kaum noch Handwerker und Arbeiter im Parlament haben, führt das nur zu einer weiteren Zersplitterung der Gesellschaft. Viele Menschen fühlen sich nicht mehr angemessen repräsentiert und haben den Eindruck, dass keiner ihre Interessen politisch vertritt. Das führt zu Extremismus. Deshalb täten sämtliche Parteien gut daran, dafür zu sorgen, dass Menschen aus diesen Schichten wieder Mandate bekleiden. Es ist sehr wichtig, auch ihre Meinung zu hören, sonst kommt es zu großen sozialen Spannungen und Konflikten.

Werden Sie nächstes Jahr noch einmal bei den Wahlen antreten?

Ich stehe auf jeden Fall zur Verfügung, sowohl für die Gemeindewahlen in Schifflingen als auch für die Kammerwahlen. Ich habe immer gehofft, dass wir bis nächstes Jahr noch die Mandatstrennung hinbekommen. 2023 wäre eine gute Gelegenheit dafür gewesen, weil beide Wahlen im gleichen Jahr stattfinden. Doch die Trennung ist bislang nicht mehrheitsfähig, fast alle Parteien sind in dieser Frage gespalten..

Mann fürs Grobe

Nach seiner Lehre zum Mechaniker arbeitete Marc Spautz (59) in den 1980-er Jahren bei der WSA und der Cegedel und engagierte sich in der Personaldelegation. 1990 wurde der Sohn des früheren LCGB-Präsidenten, Abgeordneten, CSV-Präsidenten und Ministers Jean Spautz Gewerkschaftssekretär beim LCGB, wo er bis zum Generalsekretär avancierte. 1981 trat Marc Spautz der CSV bei, 1994 wurde er in den Gemeinderat von Schifflingen gewählt, 2017 wurde er Schöffe. 2004 kam er in die Abgeordnetenkammer, von 2011 bis 2013 war er Fraktionsvorsitzender. Im April 2013 wurde er der bislang letzte CSV-Familienminister, wegen der vorgezogenen Neuwahlen übte er dieses Mandat jedoch nur sechs Monate aus. Von 2014 bis 2019 war er CSV-Parteipräsident. Als Mann fürs Grobe fiel er insbesondere im Wahlkampf 2018 mehrmals mit polemischen Äußerungen auf: die bekanntesten waren sicherlich die zur sogenannten „Kleeserchers-Affär“und seine homophobe Bemerkung zu den „rosa Uniformen“ für die Polizei, für die er sich später bei Etienne Schneider entschuldigte. 

Luc Laboulle
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