Senioren zählen zur Covid-19-Risikogruppe. Ihre medizinisch-pflegerische Versorgung ist gewährleistet. Wie lange noch?

Pflege am Limit

d'Lëtzebuerger Land vom 13.11.2020

36 Tote vergangene Woche und acht gestern, so lautete die traurige Pandemie-Bilanz am Mittwoch. Wie immer, gab es keine weiteren Details zu den Profilen. Es ist jedoch anzunehmen, dass es sich auch bei diesen Covid-19-Verstorbenen um ältere Menschen handelt. Die zweite Corona-Welle fordert ihren Tribut – menschliche Schicksale drohen hinter anonymisierten Zahlen zu verschwinden, derweil Angehörige um ihre Lieben auf der Intensivstation bangen. Angehörige dürfen inzwischen am Klinikbett Abschied nehmen, sie werden, mit Extra-Schutzanzügen bekleidet, zu den Lieben gelassen. Auch sonst versuchen die Verantwortlichen in den Kliniken und Heimen, das Leid und die Isolierung, die zur Krankheit hinzukommen, auf ein Minimum zu beschränken.

„Ich denke, die völlige Isolation von älteren Menschen über Wochen werden wir nicht mehr erleben“, sagt Julie-Suzanne Bausch dem Land. Die Vizedirektorin des Lycée classique in Diekirch hat selbst Verwandte in einem Pflegeheim: „Wir können sie sehen, mit Plexiglas-Abtrennung und Abstandhalten“, erzählt Bausch freimütig, die zudem Präsidentin der nationalen Ethikkommission ist. Im Juli hatte das Gremium ein Positionspapier zur durch die Corona-Pandemie verursachte Verletzlichkeit bestimmter Personengruppen veröffentlicht und vor den Folgen des Lockdown gerade für ältere Personen gewarnt. Damals hatten Mitglieder der Kommission selbst erfahren, was die Abschottung für ältere Menschen bedeutet: Viele waren von ihren Angehörigen und Freunden im Heim getrennt. Deren Aktivitäten, Ausflüge und Kontaktmöglichkeiten wurden teils drastisch reduziert.

Das soll bei der zweiten Welle nicht wieder vorkommen. Die Empörung war im Frühjahr hochgeschlagen, weil Angehörige den Zutritt zu wegen Covid-19 sterbenden Verwandten verwehrt bekamen, „eine nicht hinnehmbare Diskriminierung“, so die Ethikkommission. Daraufhin legten Familien- und Gesundheitsministerium gemeinsam Regeln zum Besuch von Covid-19-Schwerkranken fest; die Besuchsregeln in den Heimen überließen sie den Trägern und ihrem Dachverband Copas, gaben aber Empfehlungen vor. Seitdem versuchen die Alten- und Pflegeheime die Schutzmaßnahmen flexibler anzuwenden und Besuche, so lange es eben geht, zuzulassen.

Denn mit der zweiten Welle steigen die Infektionen in höheren Altersgruppen wieder an – und auch die Zahl der Covid-Kranken und Toten: Zwischen 20. September und 18. Oktober hat sich die Zahl der Infekionen bei den 60- bis 69-Jährigen versiebenfacht. Am 11. November waren 750 Bewohner/innen und 610 Mitarbeitende in Altersheimen Covid-19 positiv. Die 70- bis 90-Jährigen machen knapp 90 Prozent aller Covid-19-Todesopfer aus, zählt man die 60- bis 70-Jährigen hinzu sind es sogar 97,5 Prozent. Vergangene Woche waren in Heimen fünf neue Infektions-Cluster aufgetreten, Covid-positive Bewohner hatten Mitbewohner angesteckt. Um eine flächenartige Ausbreitung des gefährlichen Virus zu verhindern, berichten Angehörige, wurden erneut Infizierte auf ihren Zimmern eingesperrt. „Bei ihnen kommen die sanitären Regeln zur Anwendung, die auch in der Normalbevölkerung gelten“, betont Carine Federspiel von Zitha Senior. Ein Problem sind die vielen asymptomatischen Fälle, die nicht direkt erkannt werden. Denn auch wenn Alte wegen Diabetes, Gebrechlichkeit und Atembeschwerden zur Risikogruppe zählen, werden längst nicht alle krank.

Die Situation der älteren Covid-19-Betroffenen in den Heimen und zuhause ist unübersichtlich, auch weil das für die sanitären Maßnahmen zuständige Gesundheits- sowie das Familienministerium weiterhin nicht viel mehr Transparenz walten lassen: Clusterbildungen werden nur auf Nachfrage mitgeteilt und so, dass sich Fälle nicht zuordnen lassen, begründet wird dies mit dem Datenschutz. Bei den Angehörigen steigt indes die Sorge über zu strenge oder zu laxe Schutzmaßnahmen, Vernachlässigung und Fehler. In größeren Heimen gibt es Ethikräte; ansonsten fehlen externe Stellen, an die sich Angehörige mit Fragen und Beschwerden wenden können. Ex-Ombudsfrau Lydie Err hatte gefordert, auch Heimen Kontrollbesuche abstatten zu dürfen. „Ich bin jederzeit bereit zu kommen, wenn mich jemand einlädt“, betont Nachfolgerin Claudia Monti.

Statt aufzuschlüsseln, wo wer in der Klinik, im Heim oder zuhause stirbt, liefert das Gesundheitsministerium weiterhin nur die nötigsten Daten. Erziehungsminister Claude Meisch veröffentlicht wöchentlich einen Covid-19-Lagebericht; die Familienministerin Corinne Cahen (DP) scheint indes komplett abgetaucht, obwohl Alters-, Pflege- und Behinderteneinrichtungen mindestens so wichtig sind wie die Schulen und Kindergärten, zumal es sich teils um Risikogruppen handelt. Damit entfällt die Möglichkeit, die Öffentlichkeit gezielt zu warnen und das Krisenmanagement zu überprüfen.

Im Gutachten hatte die Ethikkommission betont, wie wichtig eine „ehrliche und offene Kommunikation sowie zugängliche Informationskampagnen, die Diskriminierung und Stigma verhindern“, seien. Die Heime veröffentlichen keine Covid-19-Statistiken. Die Pressestelle im Gesundheitsministerium gibt sich alle Mühe, bekommt aber täglich unzählige Anfragen aus dem In- und Ausland.

Wie es scheint, haben Besuche am Vatertag (4. Oktober) und zu Allerheiligen dazu geführt, dass das Virus in den Heimen und Familien stärker streut. Offenbar ist nicht überall angekommen, dass in den eigenen vier Wänden und in der Familie die Ansteckungsgefahr am größten ist und schützen sich viele nicht entsprechend. Es fehlen zielgruppengerechte Ansprachen und Aufklärungssendungen. Die anhaltend hohen Infektionszahlen gehen an den Altersheimen nicht spurlos vorüber: An den Bewohner/innen nicht, die sich angesichts von 110 Neuinfektionen allein vergangene Woche teilweise wieder strengeren Schutzmaßnahmen gegenübersehen. Mehrere Heime haben, um das Virus in den Griff zu bekommen, die Anzahl der Besuche deutlich reduziert.

Aber auch am Personal nicht, das seit Wochen unter Hochdruck arbeitet. Denn neben den Bewohner/innen stecken sich Krankenpfleger/innen mit dem Sars Cov-2-Virus an. Der quarantäne- und isolierungsbedingte Ausfall ist hoch und bringt die Heime, aber auch die mobilen Pflegedienstleister an die Grenzen. Der Generaldirektor des Krankenhauses CHL, Romain Nati, sagte diese Woche, die Situation in den Kliniken sei noch stabil, weil ältere Covid-Kranke in den Heimen betreut würden – aber das bedeutet Mehrbelastung für das Pflegepersonal dort. Gleichwohl sind 73 Prozent der derzeit wegen Covid Hospitalisierten über 60 Jahre, 38 von ihnen (70 %) liegen auf der Intensivstation und 13 werden intubiert. Die coronabedingte Ausdehnung der maximalen Tages- und Wochenarbeitszeit auf zwölf beziehungsweise 60 Stunden haben bisher zwölf Einrichtungen, das Gros aus dem Pflegebereich, angefragt; allerdings müssen zuvor die Kollektivverträge geändert werden, bevor die Regelung greifen kann. Derweil werden Mitarbeiter aus Vorruhestand oder Pension zurückgerufen.

Auch beim mobilen Pflegedienstleister Hëllef Doheem wird das Personal knapp. „Den Höchststand hatten wir vergangene Woche mit 85 ausgefallenen Mitarbeitern erreicht“, erzählt Generaldirektor Benoît Holzem. Allmählich pendele sich das Infektionsgeschehen ein, „aber auf hohem Niveau“. Mitarbeiter machen Überstunden, kurzfristig hat die Stiftung ehemalige Mitarbeiter/innen gebeten einzuspringen; auch Verwaltungspersonal mit pflegerischer Ausbildung wurde herangezogen, um die dringendsten Lücken zu füllen. Überlegt wird zudem, Mitarbeiter im Elternurlaub heranzuziehen, doch zuvor muss dies rechtlich geklärt werden. „Das geht eine Weile gut, die Frage, die sich aber jeder stellt, ist: Wie lange?“, beschreibt Holzem die Herausforderung für das Pflegepersonal. Seine Sorge: Irgendwann wird sich der Personalmangel auf die Leistungen niederschlagen: „Wenn ein Pfleger mehr Patienten als sonst betreuen muss, bleibt zwangsläufig weniger Zeit zur Betreuung.“ Covid-bedingt haben manche Pflegedienstleister die begleiteten Einkäufe reduziert. Eine Woche zuvor hatte Nathalie Hanck, Sprecherin von Servior, dem größten Altenheimträger im Land, im Tageblatt ebenfalls Alarm wegen drohender Personalnot geschlagen.

Tatsächlich geht der Blick auf die Intensivbettenkapazitäten allein nicht weit genug, denn die Betreuung von Covid-Patienten, geradeso wie die von geschwächten Covid-Geheilten verlangt dem Personal viel ab. „Der Beruf ist in normalen Zeiten hart, aber unter Covid-Bedingungen ist er noch schwieriger“, sagt Tina Koch, Generalsekretärin der Krankenpflegevereinigung Anil. Unter manchen Kolleg/innen nähmen Frust und Wut zu: Je weniger sich die Bevölkerung an die Schutzmaßnahmen hält, umso mehr bekommt das Klinik- und das Pflegepersonal zu tun. Wie sich Stress und Frust auf die Krankmeldungen auswirken, war nicht zu erfahren.

Die Kliniken waren die ersten, die das psychologische Angebot für das eigene Personal ausgebaut hatten: Angestellte, die covid-bedingt unter Stress und Anspannung stehen, sollen hier Gesprächspartner finden. Besonders schwer haben es die Teamleitenden: Sie bekommen nicht nur den Druck der Patienten und der Chefetage zu spüren, sondern auch den der Kolleg/innen. Wie aber Perspektiven vermitteln bei einem Virus, gegen das noch kein Impfstoff existiert? Immer da gibt es seit dieser Woche einen Hoffnungsschimmer. Allerdings wird ein Impfstoff nicht sofort jedem/jeder zur Verfügung stehen, was neue ethische Debatten lostreten dürfte. Deutschland hat einen Impfstoffplan entwickelt, wonach ältere Menschen und diejenigen, die in der ersten Reihe der Pandemiebekämpfung tätig sind, die ersten sein sollen, die geimpft werden.

Die Luxemburger Ethikkommission ist dabei, sich ins Thema einzuarbeiten und verschiedene Szenarien zu prüfen, eine Stellungnahme wird wahrscheinlich für Anfang Dezember vorliegen..

Ines Kurschat
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