Die Kommentarsektion unter Artikeln auf rtl.lu: mehr als gegenseitiges Anschreien?

Wo Wahrheiten kollidieren

d'Lëtzebuerger Land du 13.11.2020

Es klingt wie ein altes Worträtsel: Ich bin ein Text, aber keiner hat mich geschrieben. Ich richte mich an niemanden, aber jeder liest mich. Ich vertrete jede Meinung. Und keine. Ich streite und schlichte, bin links und rechts. Was bin ich?

Die Kommentarsektion unter den Artikeln auf rtl.lu scheint manchmal ein Mysterium zu sein: knapp 100 000 Reaktionen, Meinungen, Fragen und Antworten wurden dort allein 2019 veröffentlicht – also noch bevor die mediale Ausnahmesituation des Jahres 2020 begonnen hatte. Dieses Jahr werden es wohl deutlich mehr sein. Aber was steckt hinter diesen Kommentaren, insgesamt mittlerweile knapp eine Million, die niemand geschrieben haben will, und wer? Und wieso, könnten sich Besucher fragen, gibt es sie überhaupt, diese „Commentaire(n)“, spätestens nachdem sie einige Reaktionen unterschiedlichen Lesbarkeits- und Verständlichkeitsgrades überflogen haben. Wenn schon nicht Antworten, dann doch Ansätze geben Guy Weber, Informationsdirektor Nachrichten von RTL, und Olivier Treinen, Head of Digital Content und Meister dieses organisierten Chaos. Denn wer sich durch fehlende oder exzessive Interpunktion kämpft, durch Sarkasmus und Trolls, findet hier das schillernde Spiegelbild einer Gesellschaft im ewigen Wandel – die nun mal nicht einfach ist. Vor allem die Corona-Debatte hat so manch einen Flame War befeuert. Hinter der digitalen Front steht ein Team aus acht Journalisten, die den Diskurs moderieren und jeden Tag mit den ethischen Fragen ihres Berufes konfrontiert sind.

„Ja, wer kommentiert unter unseren Artikeln… wenn ich das wüsste“, lacht Olivier Treinen. „Mein Vorgänger Luc Marteling, der das Forum auf seine trockene Weise sehr zelebriert hat, meinte, man müsse ihnen eine Einladung zum gemeinsamen Essen zukommen lassen. Ich glaube, wenn wir wüssten, wieviele Leute man kennt, die hier am Diskurs teilnehmen, wären wir alle überrascht. Wie heißt es? Es war nicht niemand.“

Wer genau hinter den anonymen User Tags steckt, weiß also keiner genau, nicht einmal die Moderatoren, und auch wenn sie, wie Neo in The Matrix, irgendwann durch den Code hindurch sehen und individuelle User hinter unterschiedlichen Accounts an ihrer Schreibweise wiederkennen: die Anonymität des Forums schließt ein klares demografisches Bild des durchschnittlichen RTL-Kommentators aus. Laut einer internen Umfrage sollen 20 Prozent unter eigenem Namen kommentieren. Überprüfen kann das niemand. Geschlecht, Alter, Herkunft, Bildung – durch den Benutzernamen starten auf dem freien Markt der Ideen alle gleich, zumindest bis der erste Kommentar geschrieben ist. Ob dieser erste Kommentar – und alle folgenden – tatsächlich veröffentlicht wird, entscheidet das Team aus den acht Journalisten um Treinen.

Jeder vierte der verfassten Texte schafft es unter normalen Bedingungen nicht durch diesen Filter. Laufen die Gemüter heiß, wie etwa während des ersten Lockdown, sind es machmal doppelt so viele. Und jedes einzelne Urteil darüber, einen Kommentar zu veröffentlichen oder nicht, ist eine kleine ethische Entscheidung. Denn zwischen den Zeilen der gut 2 000 Worte langen Charta, die nicht zufällig im Juli 2020 erneuert wurde und der jeder Benutzer beim Erstellen seines Accounts zustimmt, ist Platz für Interpretationsraum Und damit Potenzial für Meinungsverschiedenheiten. Nicht in Großbuchstaben schreiben, keine rassistischen und sexistischen Inhalte, keine Aufrufe zu Gewalt – soweit relativ simpel. Aber „Fair a sachlech bleiwen“, „Hannerleet Är eege Meenung mat Argumenter, net mat net verifizéierbaren Behaaptungen“ oder „Bezitt Iech op d’Thema“ sind intellektuelle Wespennester, deren Antworten – oder eben Mangel an Antworten – wohl nicht nur Soziologen, Linguisten, Philosophen und Psychologen schaudern lässt – sondern auch Journalisten.

Realitäten „Vor allem die Leute, die ‚extreme‘ Meinungen haben, schreiben hier oft, weil sie wirklich, ehrlich an ihre Meinung glauben und nach Gleichgesinnten suchen, oder weil sie anderen Leuten ihre Wahrheit mitteilen wollen. Sofern diese nachvollziehbar ist, dürfen sie das auch gerne hier tun“, räumt Treinen ein. Insbesondere die Debatten um die Covid-Pandemie und die damit verbundenen Einschränkungen führen oft zu Diskussionen, die den Rahmen normaler Debatten sprengen: Die dialektischen Evergreens Autos, Tabakgesetzgebung, Radarkontrollen – alles was die Leute aufregt, verblasst im Vergleich mit der Wucht und Virulenz des Corona-Diskurses. Es geht nicht länger um einzelne Regeln, sondern um fundamentale Fragen, die jeden in der Gesellschaft betreffen.

Keine Überraschung, stimmt Weber zu: „In unserer Generation hat es beispielsweise noch nie eine Ausgangssperre gegeben. Dieser Ausdruck Bleift doheem, der den Diskurs von Anfang an geprägt hat, bringt einen langen Rattenschwanz mit sich. Sowas hat es noch nie gegeben, die einzigen, die mir sowas bisher gesagt haben, waren meine Eltern. Ein Bild, das mir noch genau vor Augen ist, sind die schwerbewaffneten Polizisten an der deutschen Grenze, da ist es nicht überraschend, dass die Leute einfach Angst hatten.“ Man müsse kein Psychologe sein, um festzustellen, dass der Ton der Debatte vor allem bezüglich Corona ein anderer sei als bisher. Denn ein Ausweg ist für einige, sich alternative Quellen zu suchen, aus denen man sich die eigene Realität konstruieren kann. Das Internet bietet hierfür mehr als genug Optionen, wer nach Material sucht, um sich eine Parallelwelt zu bauen, bewusst oder unbewusst, wird schnell fündig.

Vor allem zu Beginn der Krise, erinnert sich Olivier Treinen, seien viele Kommentare geschrieben worden, die die Situation relativiert, die Maßnahmen in Frage gestellt hätten. „Okay. Aber wenn die Leute beginnen, obskure Youtube-Videos zu verlinken, oder Texte aus Internet-Seiten zu kopieren, die den Artikel in Frage stellen, muss eingegriffen werden.“ Manche dieser Fälle führen zu individuellem Austausch per Mail zwischen den Kommentatoren und Journalisten, der mal mehr, mal weniger fruchtbar ist: „Wenn man die Leute fragt, wo ihre Zahlen herkommen und sie beispielsweise Sputnik oder einzelne Ärzte oder ,Experten‘ zitieren, kommt die Frage auf, warum einige diesen Quellen mehr trauen als uns. Warum diese Quellen besser sein sollen, als wir, und die anderen Medien, die eine gewisse Glaubwürdigkeit haben. Wann ist Sputnik zur Referenz geworden?“, fragt Weber. Wie aus der Pistole geschossen, antwortet Treinen: „Weil diese Medien eine andere Meinung vertreten und die Leute eine andere Meinung hören und haben wollen“. Was kam zuerst, Medien oder Meinung?

Es ist nur scheinbar ein Henne-und-Ei-Problem. Denn tatsächlich suchen sich Menschen nachweislich primär die Medien heraus, die die eigene Meinung bestätigen. Was der Mensch glaubt, wie und was er denkt, bestimmt, welche Medien er konsumiert. Und das Forum des unumgänglichen Mainstream-Medienhauses Luxemburgs schlechthin ist eine der Arenen, wo diese Welten aufeinanderprallen. Der Drahtseilakt der Moderatoren besteht also darin, fasst Weber zusammen, ein objektives Bild wiederzugeben, von dem, was ist, und dem, was die Leute darüber denken, ohne einzelne Meinungen zu unterdrücken.

Besonders die Anonymität des Forums macht dies oft zu einem Prozess, der in einem ersten Schritt auf Unverständnis stößt, wenn eine Nachricht abgelehnt wird. Dennoch sieht Treinen Lichtblicke:„Es mag nach einem Klischee klingen, aber sobald man mit Leuten, deren Kommentar nicht akzeptiert wurde, in Mail-Kontakt kommt, entfällt der Zauber des Forums und mit ihm die Abstraktion des bösen Moderators. Die Leute werden wieder zu Menschen.“ Es liege wohl in der Natur des Forums, dass viele in eine argumentative Spirale kommen, in der es nur um die eigene Meinung geht, wo man im „richtigen Leben“ sagen würde: „Agree to disagree“.

Everything Stew Noch komplizierter wird die Gesprächsdynamik im Forum durch die vielen Rollen, die es gleichzeitig einnimmt. Es ist, unter vielem anderen, Druckventil für Wut und Angst, ein Ort, an dem Leute private Probleme in die Leere des Internets schreien, ein Spielplatz für Streitlustige und Hobby-Rhetoriker, die ihre Argumente in freier Wildbahn austesten wollen, Zulaufsort für Menschen, die Kontakte oder Hilfe suchen, und solche, die Hilfe anbieten wollen. Es ist ein Ort für Leute, die trollen wollen, witzig sein wollen, und Leuten die den Witz nicht verstehen. „Wie im richtigen Leben“, fasst Treinen zusammen: „Nur halt Anarchie.“ Aber, fügt Weber hinzu, „mit Regeln“.

Es ist vor allem Routine, die den Moderatoren dabei hilft, bei gut über 300 Kommentaren pro Tag nicht den Kopf zu verlieren. Der Beruf ist für beide auch nach vielen jahren Erfahrung nicht langweilig geworden: „Es entstehen immer neue Konstellationen, immer neue Themen. Und während die Begriffe des Stasi-, DDR- oder Nazi-Zensors durchaus fallen, lernt man, damit umzugehen und sie mental in die 25 Prozent der Kommentare zu klassieren, die nicht veröffentlicht werden.“ Alleine der physische Aufwand alle Kommentare zu lesen sei nicht klein, aber es wäre schade, das Forum komplett zu schließen.

Es ist ein Querschnitt der Gesellschaft, der hier im Forum lautstark wird, mit all seiner Dialektik und all seinen Dichotomien. Trotz allen Herausforderungen, ist die Kommentarsektion nicht nur ein Teil der öffentlichen Debatte, sondern auch für Journalisten, die hier eine konkrete Schnittstelle zwischen ihrer Arbeit und ihren Lesern sehen, eine Chance, tote Winkel zu erkennen, neue Ansätze zu finden die sie in ihre Arbeit einbauen können. Für sie und für die Leser kann es eine Möglichkeit bieten, die eigene Blase zu verlassen und andere Facetten der Gesellschaft zu sehen, Realitäten kennenzulernen, die man bisher noch nicht kannte.

Einfach ist es nicht, in der Kakophonie des Forums einzelne Stimmen auszumachen. Aber, wie die Charta des Forums sagt, hinter jedem User Name steckt eine Person, und selbst Trolls und Provokateure schreien mit jedem Kommentar etwas kleines über sich selbst in die Welt hinaus. Es bleibt hier, an letzter Stelle, einer expliziten Aufforderung von Guy Weber nachzukommen: „Schreib doch im Artikel die Einladung zum Essen an die Kommentatoren aus. Wir würden kommen. Dürfen natürlich nicht mehr als vier sein, aber irgendwann in Zukunft...“ Sie wissen, wo Sie zusagen können..

Misch Pautsch
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