Europa und die USA

Ein neues Zeitalter

d'Lëtzebuerger Land vom 13.11.2020

Die Vereinigten Staaten haben gewählt. Joe Biden soll neuer Präsident der USA werden, auch wenn für den Amtsinhaber Donald Trump die Messe noch nicht gesungen ist. Europa nahm den Wahlausgang mit großer Erleichterung zur Kenntnis, doch es besteht kein Grund zur übermäßigen Freude. Denn zum Ende von Trumps Amtszeit lässt sich vor allen Dingen ein Fazit ziehen: Das transatlantische Verhältnis, so wie es sich seit dem Zweiten Weltkrieg entwickelte und als Grundfeste der europäischen Identität galt, wird nicht weiter bestehen. Es ist Geschichte. Vergangenheit. Dies ist nicht allein Vermächtnis von Donald Trumps Regierung oder ein Erbe der vergangenen vier Jahre, es ist auch kein radikaler Bruch, sondern eine Entwicklung, die sich seit Beginn des Jahrtausends abzeichnete und ein schon länger erkennbarer Trend des transatlantischen Auseinandertriftens.

Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 stellte sich Europa demonstrativ an die Seite der USA. Berlin erklärte etwa Deutschlands „uneingeschränkte Solidarität mit den USA“ und beteiligte sich, auch militärisch, an der Verfolgung der Attentäter. Doch schon zwei Jahre später – im Zwist mit den USA über den Krieg gegen den Irak – ging ein deutlicher Riss durch das westliche Bündnis. Das „alte Europa“, wie US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld die damalige Position von Frankreich, Deutschland und anderen abschätzig nannte, zog nicht mit in den Krieg am Golf. Ein Streit, der in erster Linie das nordatlantische Verteidigungsbündnis Nato nachhaltig schwächte. Die Nato hat ohne ein Identitätsproblem, wie es Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron Ende letzten Jahres zusammenfasste: Das geopolitische Projekt der Atlantischen Allianz sei nach der welthistorischen Zäsur vor 30 Jahren „nicht einmal ansatzweise neu bewertet“ worden.

Dazu gehört auch, dass sich die Nato, wie auch das transatlantische Verhältnis, nicht einer bedeutenden geopolitischen Veränderung stellte: Beide ignorierten lange Zeit den Aufstieg Chinas zu einer politischen wie ökonomischen Weltmacht. Als das Land in den Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts sich als eigenständiger Akteur in der Weltwirtschaft festigte, wurde es in der westlichen Welt lediglich als verlängerte Werkbank und scheinbar grenzenloser Absatzmarkt gesehen. Doch aus dieser Position hat sich China weiterentwickelt, während das transatlantische Bündnis im Status quo verharrte. In den Jahren der Nichtbeachtung erschloss sich China seine Märkte, schuf sich geopolitische Bündnisse und Allianzen. China verfolgt seine eigenen Interessen konsequent und offensiv – gerade so wie es die westliche Welt in früheren Dekaden machte. Aus der Linie von USA und Europa ist längst ein Dreieck geworden. Dies zu gestalten, ist die große Herausforderung, die Europa in den kommenden Jahren zu meistern hat, wenn etwa die Europäische Union weiterbestehen will.

Die Administration Trump hat China unbeachtet gelassen, es hauptsächlich als Rivalen betrachtet, um gängige und eingeübte Feindbilder bedienen zu können. Doch Peking ist längst systemrelevant geworden. Die Welt braucht China, um kommende Herausforderungen meistern zu können, wie Klimawandel, Pandemien oder Migration. Die gleiche abwertende Wertschätzung ließ Trump der EU angedeihen, auch diese sah er lieber als Gegner, bei dem es Zwist zu sähen galt, um seine protektionistische Politik des „America First“ umzusetzen. Viele europäische Regierungen sind Trump auf diesem Weg gefolgt. Sie haben dabei, wie Washington auch, Bestehendes zerstört, ohne Neues aufzubauen. Die Missachtung der Vereinten Nationen, die Kündigung des Pariser Klimaabkommens, der Ausstieg aus dem Nuklearabkommen mit dem Iran, der Weltgesundheitsorganisation und vielen Abrüstungsverträgen, schließlich die Abwertung der Nato haben die internationale Zusammenarbeit über Jahre zurückgeworfen und die Welt nicht eben sicherer gemacht. Joe Biden muss nun wieder das Prinzip des Multilateralismus stärken, das von den Amerikanern vor Trump im Großen und Ganzen gelebt oder zumindest respektiert wurde.

Europa hofft nun sehr, dass alles gerade so werden könnte, wie es früher einmal war. Doch dies mag sich als gefährlicher Trugschluss herausstellen: Dem überkommenen Ideal der westlichen Welt anzuhängen, das Trump endgültig zerschlagen hat, weil es ohnehin schon lange brüchig und rissig war, wird in eine weltpolitische Isolation führen. Es kann auch hier, wie in vielen anderen Feldern der Politik kein „Weiter so!“ geben. Ganz im Gegenteil. Es gilt für die kommenden vier Jahre die transatlantische Partnerschaft in einem völlig veränderten geopolitischen Umfeld von Grund auf neu zu errichten – und zwar derart, dass sie weniger störanfällig vor nationalistischen und protektionistischen Politikstilen wird.

Schon Trumps Vorgänger Barack Obama hat gesehen, dass die Interessen der Vereinigten Staaten nicht mehr primär in Europa bedroht sind, sondern in Asien. In Folge dessen wird die Administration Biden die politische, militärische wie wirtschaftliche Kraft auf den indo-pazifischen Raum konzentrieren. Der Bedarf an Rohstoffen wird zudem den afrikanischen Kontinent stärker in den Fokus rücken. Gerade hier hat Peking bereits seine Pfründe abgesteckt und durch Entwicklungshilfe-Maßnahmen Abhängigkeiten geschaffen. Zwischen all diesen Stühlen sitzt irgendwie, irgendwo ein Europa, das derzeit selbst im Umbruch begriffen ist, dessen Ideal der Europäischen Union durch den Brexit erheblichen Schiffbruch erlitten hat, das ökonomisch eine Macht, aber politisch ein Zwerg ist, der lange Zeit durch die Fürsorge und am Rockzipfel der USA erfolgreich sein konnte.

All die Hoffnungen, die in einen Neuanfang mit Joe Biden gesetzt werden, bedeuten auch einen Neuanfang für Europa. Die EU muss sich insbesondere in der Außen- wie Sicherheitspolitik, aber auch in der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik auf eine neue Grundlage stellen. Dies kann auch bedeuten, dass die Mitglieder in all diesen Bereichen auf einen substanziellen Teil ihrer nationalstaatlichen Souveränität verzichten müssen. In der Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik etwa braucht Europa ein eigenes Budget und einen eigenen Finanzminister. Nicht alle 27 Mitgliedsstaaten werden diesen Weg mitgehen wollen oder können. Es wird zu einem Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten kommen – was ob der rechtsstaatlichen Entwicklung in Mittel- und Osteuropa bereits Fakt ist – mit der Eurozone als Tempomaten. Für Europa geht es in den kommenden vier Jahren nicht um die Restaurierung der Westlichen Welt, sondern um die Positionierung in einer von amerikanisch-chinesischen Konfrontationen und Konflikten geprägten geopolitischen Neuordnung. Dazu muss die Europäische Union in der Lage sein, selbstbewusst, selbstständig und machtvoll agieren zu können.

Martin Theobald
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