Raus, Michel: Reden über Riesenzwerge

Kleine Monster in Auflösung

d'Lëtzebuerger Land vom 09.10.2003

Als Kritiker bekannt, selten geliebt, also zu Recht gefürchtet, ist Michel Raus regelmäßiger freier Mitarbeiter auch dieser Zeitung.  Vielleicht vergisst man dabei, dass er auch kritischer Zeuge der an Umwälzungen und Umbrüchen überreichen Zeit zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Jahrtausendwende ist. Eine Facette seines literarischen Schaffens, der er jetzt eine eigene Textsammlung widmet. In seinen bei den Éditions d'Lëtzebuerger Land soeben erschienen Reden über Riesenzwerge beschäftigt sich Raus hauptsächlich mit den Umwälzungen in den Köpfen, und, als guter Schriftsteller, hauptsächlich in seinem. 

Das mag manchen verwirren, der oberflächlich liest und sich die Frage stellt, was zum Teufel wohl ein flüssiger, brillant geschriebener journalistischer Essay über die Entwicklung der Benelux-Staaten, mit einer an Gregor von Rezzori diagnostizierten Begeisterung für Müllerthaler Mirabellenschnaps und dem stets schlohweiß gewaschenen Spitz seiner Großmutter zu tun haben könnte. Zugegeben, ich ärgerte mich so lange über diese editorischen Zusammenhänge, bis mir klar wurde, dass es keine gibt.

Das Bild der Riesenzwerge lässt einen bei keiner der sehr disparaten Jugenderinnerungen, Betrachtungen, Begegnungen los. Manchmal sind sie eben schrecklich, diese biederen, gemütlichen Luxemburger. Wie Raus eine grauenhafte und gleichzeitig erbärmlich blöde "Strafexpedition" befreiter Luxemburger auf die andere Seite der Mosel schildert ("Überbrückungen"), kann man sich Wort für Wort auf der Zunge zergehen lassen, bis einem dann plötzlich eine Vergewaltigung aus der Sicht eines aufmerksamen, kleinen Jungen im Gesicht explodiert. Da sieht man den alten Jungen, der die Szene mit der gebrochenen Distanz echter Literatur beschreibt, plötzlich ganz anders. 

Anders jedenfalls als in der Rolle des RTL-Starkritikers, der sich über die Jahre hinaus in die Rolle des literarischen Beelzebub hineinglossiert hat, beziehungsweise von Stümpern hineingehechelt. Typisch luxemburgisch ist wohl die Manie, den eigenen Heimatort schamhaft mit "R." zu bezeichnen (Vorsicht, Nestbeschmutzung!), der viel beschworenen Authentizität zuliebe aber nicht zu vergessen, dass es nicht weit von Remich liegt. Das ist aber nicht weiter schlimm, wenn nur die Hälfte von dem stimmt, was Beelzebub junior auf der Moselbrücke bei der triumphalen Heimkehr der Gebeine Johanns des Blinden über dieselbe Brücke erlebte. Ich fürchte allerdings, dass alles bis ins Detail historisch wahr ist, denn soviel satirische Fantasie kann man keinem Menschen zutrauen.

 

Mal Kriemhild, mal Siegfried

 

Allen Michel-Raus-Opfern gönne ich die Jagd nach dem stilistischen Patzer, denn schließlich, warum soll der ewige Jäger nicht einmal selbst gejagt werden. Toll finde ich diesen John B. Miller, der 1991 für Mom an' Dad einen Brief in einem entsetzlichen  Kauderwelsch nach Amerika schickt, via Ons Stad, und in der Begeisterung glatt vergessen hat, wie man "maybe" schreibt. Schachtelsatz-Fans werden selbstverständlich genauso belohnt wie Leute, die sich krank lachen, wenn jemand mit kriemhildischer Innigkeit von der "grassierenden Freundschaft" kündet "die fürwahr kein lehrer Wahn" sei, oder Sätze fertig bringt wie: "Ein biederer ortsansässiger Kritiker lässt Biergischt wollüstig in seine Tulpe zischen." Oder dass jemand sich streng wissenschaftlich mit dem national unumgänglichen, weil ausgestorbenen Begriff "Zillebäcker" auseinandersetzt, um dann cool zu verkünden "dass ohne ausgeprägtes Geschichtsbewusstsein auf eine anspruchsvolle Zukunftskultur nicht zu hoffen ist". 

Bei seinen Abhandlungen über deutsche Lyrik in Luxemburg outet sich Raus überraschend als Nikolaus-Welter-Fan und diagnostiziert "marienfädenzarte Impressionismen" genau dort, wo vielleicht bei Spätgeborenen die Verlockung von Morpheus' Armen siegt. Wie der bedauernswerte Nikolaus Hein sich wohl "lebenslang tief in seiner Moselerde verwurzelt" gefühlt hat, will ich lieber gar nicht wissen. Michel Raus ist ein Autor, den man lesen muss, weil er eben zu allem fähig ist, meistens aber zum Guten. Und wenn ich seine Schulerinnerung "Faustrechte" zum dritten oder vierten Mal durchlese, wie der bärbeißige Kritiker und streitbare Ritter Michel von der Moselbrücke plötzlich ganz zart, ganz schamhaft, kokett wie eine alte Jungfer, plötzlich das sensationelle Geständnis andeutet, vielleicht, eventuell, nicht immer alles, was er kritisierte, auch noch gelesen zu haben - ja, bei soviel echter Größe  kann man nur noch aus dem Faust zitieren ... ähm ...: "von Zeit zu Zeit les' ich den Alten gern".

 

Michel Raus: Reden über Riesenzwerge; Erinnerungen - Essays - Erzählungen; Éditions d'Lëtzebuerger Land, September 2003; 150 Seiten; 17,50 Euro; ISBN 2-919930-00-2

 

 

 

Jean-Michel Treinen
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