Mit Doheem spürt das Theaterkollektiv ILL Formen des Zusammenlebens nach und erschafft im Ferroforum, einer alten Industriehalle in Schifflingen, sinnliche Theatermomente

Wie viel Nähe darf’s sein?

d'Lëtzebuerger Land du 22.07.2022

Was bedeutet zuhause und was macht Zusammenleben aus? Mit Doheem hinterfragt das Theaterkollektiv Independent Little Lies (ILL) Formen des Zusammenseins. Dabei geht es weniger um die in Luxemburg allgegenwärtige Wohnraumproblematik, als um ganz persönliche, emotionale Annäherungen an das Thema. Mit dem Untertitel Fragments d’intimités verweist das Künstlerkollektiv bereits auf den Charakter der Inszenierung. Die Regisseurinnen Claire Wagener und Elsa Rauchs haben persönliche Empfindungen zusammengetragen. In Puzzlestücken setzt sich dieser Theaterabend in der Industriehalle Ferroforum zu einem großen, diffusen Tableau zusammen, das bis zum Schluss kein geschlossenes Ganzes ergeben will.

Es sind Momentaufnahmen, Schlaglichter und kleine, mitunter starke Szenen, die die Zuschauer/innen mit Fragen rund ums Zusammenleben konfrontieren. Ab wann sind Menschen zusammen? Was hält uns zusammen, was passiert mit uns, wenn unser Raum uns genommen wird? Und wie können wir uns neu finden, wenn wir den Boden unter den Füßen verlieren? Ausgehend von einer Erkundungsarbeit präsentieren Bürger/innen des Mitmach-Kollektivs Biergerbühn in Zusammenarbeit mit dem künstlerischen Team von ILL die Ergebnisse ihrer Recherche über Zugehörigkeit, Nähe, Distanz und Verbundenheit. Das Publikum durfte vorab persönliche Empfindungen einbringen. Doheem spiegelt diese individuellen Empfindungen wider und ist für den einen oder anderen vielleicht enttäuschend unpolitisch. Wer sich auf das Konzept einlässt, kann den Abend dennoch genießen.

In einer Industriehalle koexistieren Gesang, Bewegung und verschiedene Sprachen – dort entfaltet das Stück Szenen, die die Zuschauer/innen in die unterschiedlichen Töne, sprachlich wie tänzerisch, eintauchen lassen. So schellt anfangs eine handbetriebene Alarmglocke, die bunte Truppe betritt trippelnd die Industriehalle, einige wirbeln in der weiten Halle wie die Schmelzarbeiter von einst.

Auf Fluchtsituationen folgen schräge Proben unter eindrucksvoller Anleitung. Catherine Elsen sitzt auf einem Aussichtssturm und gibt Anweisungen durch ein Megafon; ein Blasorchester stimmt Töne von einem Balkon an und treibt die Truppe unter dem Refrain Voyage Voyage von Desireless gleichermaßen an. So wirkt es, als werde die gesamte Industriehalle bespielt. Wenn Einzelne ausscheren und individuell performen, schaffen sie Momente großer Schönheit. Das diffuse Gemurmel und die zum Teil absurd wirkenden Dialog-Fragmente gehen über in Erzählungen wie etwa jene über einen zu geschwommenen Buckelwal. Die Räumung einer Wohnung steht im Raum, Gegenstände werden eingesammelt. Sie werden alles mitnehmen: „Je suis là, je reste!“

Von einem Balkon ertönt Getuschel und Geraune: „Hast du gewusst? Sie haben geheiratet ... aber sie sind noch (gar) nicht zusammen.“ Es sind Schlaglichter, Halluzinationen und Träume: „Dass ich mich verraten könnte und all das sagen, was unsagbar ist.“

Starke Bühnenmomente, wenn etwa Marie Mathieu – mit rauchiger Stimme anrüchig und so schnoddrig wie damals der gefeiert-geächtete deutsche Nachkriegsstar selbst – das Lied In dieser Stadt von Hildegard Knef vorträgt und zeigt, dass sie das Zeug zur Chansonsängerin hat. Urkomisch, wenn Marc Baum in hautenger Motorradkluft von einem Balkon Parole, Parole, Parole (ohne Dalida) trällert und dabei nicht ganz Alain Delon ähnelt.

Schließlich wird die Kultfigur des zeitgenössischen Tanzes Pina Bausch in einem Clip eingeblendet und über ihre Zukunft befragt: „Pina, how do you feel about your future?“ Ratlos, aber mit aufrechter Haltung und nachdenklich antwortet die drahtige Choreografin, der es neben der Perfektion der Form seit jeher mehr ums Mitfühlen ging, auf Englisch mit deutschen Akzent: „I don’t know. I feel a lot of strength.“

In dem Trailer zur Ankündigung des Stücks hatte eine Handvoll Schauspieler/innen des ILL-Kollektiv bereits diese Szene nachgestellt und damit vorab klargestellt: Das Kollektiv hat zwar mit der Thematik des Zusammenlebens einen Topos für den Abend, ILL geht es aber offenbar vor allem um das Spiel und die Lust am (Schau-)spiel.

Am Ende fasert die Inszenierung aus und wird etwas langatmig – dennoch ist Doheem ein sehenswertes, sinnliches Stück, das vor der Kulisse des Ferroforum starke Bühnenmomente liefert.

Anina Valle Thiele
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