Stefan Maurer inszeniert Fräulein Julie im TNL launig als knisternden Geschlechter- und Klassenkampf

Und alle träumen sie vom Heiraten

d'Lëtzebuerger Land vom 19.12.2025

Wozu Menschen im Namen der Liebe fähig sind, illustriert Strindbergs Fräulein Julie. Das Stück gilt als das radikalste des misogynen schwedischen Autors. Es geht um Klassenunterschiede, Unterwerfung, Rollenerwartungen und Grenz-
überschreitungen.

Kein Wunder, dass Fräulein Julie weltweit zu den meist gespielten Stücken zählt. Der anhaltende Erfolg des Werks zeigt aber auch, wie zeitlos die von Strindberg geschilderte „unmögliche Beziehung“ ist. Zahlreiche Regisseure haben sich die Zähne an Strindbergs Julie ausgebissen, und eigentlich war er doch längst aus der Mode gekommen ...

Stefan Maurers Inszenierung lockt im TNL mit transparenten Stellwänden und bläulichem Licht. In der Mitte der Bühne ist eine längliche Küchenzeile errichtet, die gleichermaßen zum Kochen wie den Schauspieler/innen als Steg und Kampfplatz dient (Bühnenbild: Luis Graninger). Die Magd Christine (Silvia Munzón López) rupft hier anfangs ein Huhn. Auch in Strindbergs Drei-Personen-Stück trägt sich die Handlung in der Küche eines Gutshofs zu. Es ist Mittsommernacht in Schweden, Ende des 19. Jahrhunderts.

Im Vorwort zu seinem Einakter wünschte sich Strindberg „eine kleine Bühne und einen kleinen Zuschauerraum“. Ideale Vorrausetzungen also im TNL. Zum Auftakt erklingt launige Indie-Musik: Summer Wine von Gry & FM, gesungen von Alex Hacke (Einstürzende Neubauten), eine Cover-Version von Lee Hazlewood und Nancy Sinatras Song. Jean (Thomas Braus, Schauspielintendant des Theaters Wuppertal) kostet snobistisch vom erlesenen Weißwein; seine weltmännische Art beeindruckt wie auch seine Fähigkeit, die Dinge beim Namen zu nennen. „Wenn die Reichen sich gemein machen wollen, dann werden sie gemein“, weiß er etwa. Fräulein Julie (Nora König) in roter Adidas-Trainingshose und High Heels, purzelt aus dem Küchenbauch. Auch sie ist von Jeans Charme in den Bann gezorgen und bittet ihn zum Tanz. König, die in Luxemburg Heimspiel hat, weiß die ambivalente Rolle von Anfang an mit Verve zu verkörpern.

Die Magd Christine spielt zunächst mit Küchenutensilien und spricht recht hektisch. Sie wird lange neben sich stehen, um irgendwann, ihr Klassenbewusstsein manifestierend, über den Dingen zu schweben. Im Nu ist sie ins Abseits gespielt, wird abgehängt. Die Ahnung beschleicht sie angesichts des ungenierten Flirts zwischen Jean und Julie rasch, doch weiß sie um ihren Stand.

Bald wird die Magd genau an der Stelle liegen, wo anfangs das Huhn gerupft und ausgenommen wurde. Symbolisch an den Rand gedrängt, wird sie gefühlsmäßig gefedert. Später wird sie auf die Bühne stolpern und sich angesichts des Verrats durch ihren Verlobten förmlich die Augen reiben: „Es gibt doch einen Unterschied zwischen Volk und Vieh!“

Die Umkehr der Machtverhältnisse erfolgt schleichend. Anfangs befiehlt Julie Jean noch herrisch: „Trinken Sie auf mein Wohl!“ und lässt sich die Füße küssen. Während Christine kurzerhand mit einer weißen Decke zugedeckt wird, wie ein abgeschlachtetes Schaf. Jean kann sein Glück nicht fassen: „Ich träume, also existiere ich.“ Julie: „Ja, wenn wir nicht mehr träumen, sterben wir!“ Dass Träume eben nur Schäume sind, wird Regisseur Maurer gegen Ende klarmachen. Zuvor erlebt das Publikum Julie, wie sie Jean nach Kräften umschmeichelt, um ihn zu demütigen, nahezu zu filetieren – und ihm dann eine zu klatschen. Der Frauenhass Strindbergs schlägt in der Inszenierung konsequenter Weise um in Männerhass.

Jean, der Untergebene, mimt nur den Gentleman; er tauge nicht als Spielzeug, wird er Fräulein Julie anfangs warnen. Er habe viele Mädchen gehabt, erzählt er, und einmal habe es ihn fast krank gemacht, dass er sie nicht hat kriegen können. Daraufhin Julie wie eine Kassette mit Riss: „Wer war das? Wer war das? War das? War das??“

Irgendwann fällt die Bühne in schummriges Rotlicht und fliegt den Zuschauer/innen förmlich entgegen. Jean und Julie werden leichtfüßig die Rollen wechseln, und Jean mimt die Arroganz der Bourgeoisie. Nach der gemeinsamen Liebesnacht haben sich die Machtverhältnisse verschoben; Julie ist nach der Wahrnehmung Strindbergs (die klassische Lesart, die sich über Jahrhunderte hielt) ja nichts weiter als ein „verkommenes Weib“. Doch Fräulein Julie bleibt zunächst am längeren Hebel. Sie spielt unbeherrscht mit dem Feuer – auf der Suche nach etwas Sinnvollerem als einer standesgemäßen Heirat, und erzählt unbefangen von ihrer unorthodoxen Erziehung: Frauen durften Männerarbeit machen. Als sie berichtet, wie sie zur Welt kam, entfährt ihr ein verzückter Schrei. Von ihrer Mutter habe sie den Hass auf Männer geerbt ... G‘t sei kein Mann, keine Frau – G‘t sei ein Virus, wirft sie ein.

Es sind große Theatermomente, wenn sich Julie und Jean vor Hass und Leidenschaft anbrüllen. Nach der durchzechten gemeinsamen Nacht lehnt Jean grün an der Wand, zeigt seine brutale Seite und beschimpft Julie als „Domestikendirne“. Er setzt sie, sein manipulatives Potenzial ausschlachtend, unter Druck: Wenn sie genug Geld beschaffe, werde er mit ihr fliehen.

Und alle träumen sie vom Heiraten – obschon sie doch wissen (müssten), dass das eine Sackgasse ist. Dass die Menschen kein Talent haben, einander glücklich zu machen, war schon Strindbergs Fazit: „Die Ehe ist eine Menschenfresserei. Fresse ich dich nicht, so frisst du mich.“

Fräulein Julie betritt im TNL nach der Liebesnacht verlottert in Adiletten die Bühne; die Dollarnoten quellen ihr aus dem goldenen Handtäschchen. Mehr als Geld hat sie nicht. In der Küche, die zur Badewanne mutiert ist, wird mondän mit Geld um sich geschmissen. Der Plan, gemeinsam auszubüchsen, steht im Raum. Doch nicht mit zu viel Bagage! Das Vögelchen im goldenen Pappkarton – „das einzige Lebewesen, das mich liebt“ (Julie) – wird kurzerhand von Jean zerquetscht und der Geschlechter- und Klassenkampf im Schaumbad ausgetragen: Ein grotesk-grandioses Bild, wenn Braus sich wie ein Pascha und in Geld schwimmend im Schaumbad suhlt (The Wolf of Wall Street lässt grüßen), während Julie nervös das Dienstmädchen belabert. Sie dreht sich irgendwann einen Joint aus Dollarscheinen und raucht genüsslich.

Dann wird noch der Spruch mit dem Nadelöhr bemüht, und Christine zieht selbstbewusst von dannen („So ist das, Fräulein Julie, arm gegen reich – und jetzt geh ich allein“); während Maurer darauf verzichtet, den Selbstmord Julies explizit nachzustellen.

Die Inszenierung im TNL zeigt, dass es nicht viel braucht, um ein knisterndes Machtspiel auf die Bühne zu bringen. Ein starker Text und die bemerkenswerte Schauspielleistung von König und Braus samt guter Regie-Einfälle reichen aus, um die Essenz des Stücks zu transportieren und den Theaterabend vortrefflich zu machen.

Am Ende versinkt die Bühne im Chaos und das Publikum wird freundlich, aber bestimmt hinauskomplimentiert: „Gehen Sie, es wird kein besseres Ende geben!“

Anina Valle Thiele
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