Zwischen Ökoliberalen und armen Hunden

d'Lëtzebuerger Land du 31.05.2019

Der CSV-Staat wird museumsreif

Seit Sonntag ist die CSV, die ein Jahrhundert lang die Politik hierzulande dominierte, nicht mehr die stärkste Partei im Land, seit die DP sie im Endspurt mit 4 245 Stimmen überholt hat. Fast hätte die CSV auch noch den dritten Restsitz an die ADR verloren und zwei statt ein Mandat eingebüßt. Damit setzt die CSV ihren von Jean-Claude Juncker vorübergehend aufgehaltenen, dann mit der Regierungskrise 2013 von ihm losgetretenen und bei den Kammerwahlen vergangenes Jahr überraschend bestätigten Niedergang fort. Die Verluste der unter dem neuen Parteipräsidenten zusammengeflickten Liste bei den Europawahlen erscheinen um so größer, als die Partei mit dem „Kompetenzteam“ um Viviane Reding und dem Wählerprotest gegen die liberale Sparpolitik 2014 ein Rekordergebnis verbuchte. Doch auch gegenüber den Kammerwahlen 2018 hat sie noch einmal 7,8 Prozentpunkte Stimmen verloren.

Die CSV hat ausnahmslos in allen Gemeinden Stimmen verloren, ihre Hochburgen eingeschlossen. Vergleicht man die Gemeinden, wo die CSV am meisten verlor, mit denen, wo die anderen Parteien am meisten gewannen, stellt man fest, dass viele enttäuschte CSV-Wähler von 2014 am Sonntag vor allem DP und Grüne wählten (R=–0,58 und R=–0,54*).

Aber vielleicht ist der Rückgang des Stimmenanteils von 28,9 auf 21,1 Prozent nicht einmal das Schlimmste für die Partei. Sie ist auch etwas weniger Volkspartei geworden. Mehr noch als bei den Kammerwahlen (R=–0,21) gibt es einen deutlich negativen Zusammenhang zwischen der Bevölkerungszahl der Gemeinden und dem Stimmenanteil der CSV (R=–0,31): Ihre Wählerschaft wurde ländlicher, dörflicher. Die CSV wurde dort am meisten gewählt, wo die wenigsten Ausländer leben (R=–0,42), nur bei der ADR ist die negative Korrelation noch höher. Die CSV wurde auch dort gewählt, wo die wenigsten Akademiker wohnen (R=–0,25). Trotz aller Modernisierungsversprechen und Erneuerungsversuche droht die CSV-Wählerschaft auf eine sehr konservative Stammwählerschaft zu schrumpfen, während städtische Mittelschichtenwähler ihr den Rücken kehren.

Rentnerpartei LSAP

Die LSAP, die seit 30 Jahren bei jeder Europawahl Stimmen verliert, konnte am Sonntag einen halben Prozentpunkt hinzugewinnen. Allerdings hatte sie mit einer ratlosen Kandidatenliste 2014 einen Tiefstand erreicht, als sich die über die Sparpolitk verärgerten LSAP-Wähler auch noch zwischen einem christlich-sozialen Luxemburger und einem deutschen Sozialdemokraten als Spitzenkandidat für den Vorsitz der Europäischen Kommission entscheiden mussten. Also war es gar nicht so schwer, es diesmal besser zu machen. Trotzdem verlor die LSAP in jeder dritten Gemeinde Stimmen.

Die Partei konnte mit dem ersten Restsitz ihr Mandat in Straßburg verteidigen, auch wenn der Erstgewählt, Spitzenkandidat Nicolas Schmit, es gar nicht richtig annehmen will. Jedenfalls behält er durch das Wahlergebnis die Legitima­tion, um sich für den so lange ersehnten Posten des EU-Kommissars bewerben zu können. War die LSAP bei den Kammerwahlen noch drittstärkste Partei, ist sie, wie bei den Europawahlen 2014, nur noch viertstärkste, hinter DP, CSV und sogar den Grünen. Mit 12,19 Prozent hat sie gerade zwei Prozentpunkte mehr als die ADR. Sie erhielt deutlich weniger Stimmen als bei den Parlamentswahlen, wo sie noch auf 16,77 Prozent kam.

Hatte die LSAP im Oktober am meisten Stimmen in den Gemeinden verloren, wo der Koalitionspartner DP am meisten Stimmen gewann, so gab es am Sonntag keinen ausgeprägten Zusammenhang zwischen dem Ergebnis der LSAP und anderer Parteien. Anders als die Koalitionspartner DP und Grüne konnten die Sozialdemokraten auch keinen größeren Nutzen aus der Havarie der größten Oppositionspartei, der CSV, ziehen.

Die LSAP bleibt, dank vor allem der Industriestädte im Süden, die Partei bevölkerungsreicherer Gemeinden (R=+0,22) mit hohem Ausländeranteil (R=+0,28). Sie bleibt das, was ihre smarten Apparatschiks schon so lange nicht mehr sein wollen: die Partei der Gemeinden mit mehr Arbeitern (R=+0,21) und mehr RMG-Beziehern (R=+0,22).

Es geht der LSAP kaum besser als der CSV. Trotz aller Modernisierungsversuche, Anpassungen an den liberalen Zeitgeist bei gleichzeitiger traditioneller Verteidigung des Sozialstaats ist sie – und nicht die ADR – die einzige Partei, die am meisten in den Gemeinden gewählt wurde, wo die meisten Rentner leben (R=+0,29). Und die am wenigsten dort gewählt wurde, wo viele Schüler und Studenten wohnen (R=–0,21).

Liberal an und für sich

Die DP verlor bloß in der Ernztalgemeinde Stimmen und konnte sich nicht nur gegenüber 2014 verbessern, als die Wähler die Steuersenkungspartei für die Steuererhöhungen abgestraft und es Spitzenkandidat Charles ­Goerens übelgenommen hatten, dass er sein nationales Mandat nicht angenommen hatte. Diesmal gewann sie auch gegenüber den Parlamentswahlen von Oktober hinzu. Seit die Wähler sich 2018 der Entbehrlichkeit der CSV bewusst wurden, wurden die liberalen Mittelschichtenwähler an sich nun ein weiteres Stück liberale Mittelschichtenwähler für sich und haben auch Charles Goerens verziehen. So sprang sogar ein zweiter Restsitz für den einst von Jean-Claude Juncker (CSV) umworbenen Kinderstar Monica Sedemo heraus. Die DP bekam ihr vor 35 Jahren in Straßburg verlorenes zweites Mandat zurück. Der ökoliberale Stimmenanteil von DP und Grünen stieg von 29,78 auf 40,35 Prozent.

Bei den Kammerwahlen 2018 hatte die DP auch Wähler des im letzten Augenblick links abgeschwenkten Koalitionspartners LSAP (R=­­–0,32) und mit patriotischer Sprachpflege Wähler der ADR (R=–0,48) angezogen. Am Sonntag gewann sie nur auf Kosten einer Partei massiv, nämlich dort am meisten, wo die CSV am meisten verlor (R=–0,58). Mit hauchdünner Mehrheit wurde die DP zur stärksten Partei im Land, obwohl die Mittelstandspartei so lange wie keine andere statt Volkspartei Klassenpartei sein will, die Partei der „Mittelschichtenfamilien in der Rushhour des Lebens“. Ihre Wählerschaft findet sich auch weiterhin mehr in Gemeinden, wo höher qualifizierte (R=+0,35) Leute mit einem höheren Medianlohn (R=+0,20) wohnen.

Kosmopolitenliste Volt

Beinahe im letzten Augenblick kandidierte die Liste Volt als lokale Ablegerin der paneuropäischen Bewegung Volt, die 2017 von dem Mailänder Jungunternehmer Andrea Venzon gegründet worden war. Mit jugendlicher Europabegeisterung und einer eklektischen Mischung aus basisdemokratischen, wirtschafstliberalen und sozialen Vorschlägen erschien sie als die Partei der hochqualifizierten, kosmopolitischen Expats. Ihre Verkörperung war der Spitzenkandidat, der ehemalige Universitätsrektor Rolf Tarrach.

Entsprechend sah die Wählerschaft von Volt aus: Sie wohnte vor allem in Gemeinden mit höheren Medianeinkommen (R=+0,46) und vielen Inhabern von akademischen und Meisterdiplomen (R=+0,50). Wo dagegen viele Arbeiter (R=–0,45) und RMG-Beziehern (R=–0,38) leben, wurde wenig Volt gewählt.

Dass die weitgehend unbekannte und im Wahlkampf wenig hörbare Bewegung 2,11 Prozent der Stimmen erhielt, halb so viele wie déi Lénk, gilt als Achtungserfolg. Es ist das beste Volt-­Ergebnis europaweit (Belgien: 0,3 Prozent, Deutschland 0,67 Prozent, Niederlande 1,9 Prozent, Spanien 0,14 Prozent), auch wenn Volt Deutschland ein Mandat im Europaparlament erhielt. In Italien und anderen Staaten brachte Volt nicht die Mindestzahl von Wählerunterschriften zusammen, die vorgeschrieben ist, um Kandidatenlisten hinterlegen zu dürfen.

Weltverbessernde Besserverdiener

Die Grünen sind die einzige Partei, die seit Jahrzehnten bei den Europawahlen stets besser abschneidet als bei den Landeswahlen. Das hat vielleicht mit ihrer Ideologie vom „global Denken und lokal Handeln“ zu tun, sicher auch mit ihren populären Europaabgeordneten.

Obwohl der zum Minister aufgestiegene langjährige Europaabgeordnete Claude Turmes nicht mehr kandidierte, verbesserte die Partei mit der wenig bekannten Tilly Metz noch einmal ihr Ergebnis und kam mit 18,91 Prozent nur zwei Prozentpunkte hinter die CSV. Dabei half wohl auch die in einem europaweiten Trend liegende Mobilisierung für den Kliamschutz.

Die Partei, die vergangenes Jahr mit ihrem Wahlergebnis die Fortsetzung der liberalen Regierungskoalition ermöglichte, scheint, wie die DP, vor allem vom Fiasko der CSV profitiert zu haben. In vielen Gemeinden, wo die CSV am meisten verlor, haben die Grünen am meisten gewonnen (R=+0,54). Obwohl Grüne und ADR in so gut wie allen Gemeinden Stimmen gewannen, gab es einen deutlich negativen Zusammenhang zwischen den Gemeinden, wo die ADR und wo die Grünen gewannen (R=–0,44), was wohl auf die entgegengesetzte soziale Zusammensetzung ihrer Wählerschaften zurückzuführen ist.

Die Grünen erwiesen sich weit mehr als die DP als die Partei der liberalen Besserverdienenden: Bei keiner anderen Partei war der Zusammenhang zwischen dem Wahlergebnis und der Höhe des Medianeinkommens so stark wie bei den Grünen (R=+0,57), weit über der entsprechenden Korrelation bei der DP (R=+0,20).

Die Grünen wurden am meisten in den Gemeinden gewählt wo die wenigsten Arbeiter (R=–0,56) und die wenigsten RMG-Bezieher (R=–0,45) wohnen. Bei keiner anderen Partei besteht eine so große Übereinstimmung zwischen dem Anteil der akademischen und Meisterdiplominhaber in einer Gemeinde und ihrem Wahlergebnis (R=+0,66).

Am meisten grün gewählt wurde in größeren Gemeinden (R=+0,23) mit vielen Ausländern (R=+0,33), in der Hauptstadt und der wachsenden Zahl ihrer Schlafgemeinden. In kleinen Landgemeinden haben die Grünen oft wenig gewonnen oder sogar Stimmen verloren.

Protest der Abgehängten

Seit der neoliberale Durchmarsch überall in Europa nationalistische und protektionistische Parteien erstarken ließ, hofft die ehemalige Rentenpartei ADR auf ihren endgültigen Durchbruch. Allerdings ist sie auch die einzige Partei, die bis 2014 besser bei Landes- als bei Europawahlen abschnitt, sogar als beide Wahlgänge noch am selben Tag stattfanden. Deshalb bemühte sie sich im Wahlkampf, als Sympathisantin der Allianz der Konservativen und Reformer in Europa aufzutreten, um europapolitische Kompetenz zu demonstrieren.

Am Sonntag gewann die ADR in 97 von 102 Gemeinden und erhielt mit zweieinhalb Prozent Stimmen zusätzlich ihr bestes Resultat bei Europawahlen. Mit ein wenig Glück wäre der dritte Restsitz nicht an die CSV, sondern an die ADR gegangen. Der populäre Gast Gibéryen bekam zehn Prozent Stimmen mehr als der Spitzenkandidat der LSAP, Ex-Minister Nicolas Schmit. Aber mit zehn Prozent liegt die ADR noch immer unter dem Niveau ihrer Blütezeit bei Landeswahlen. Die ADR wurde, ähnlich wie ihre Abspaltung déi Konservativ und die CSV, am besten in Gemeinden gewählt, wo weniger Leute mit akademischen und Meisterdiplomen wohnen (R=–0,33), wo die Einwohnerzahl geringer ist (R=–0,28) und vor allem weniger Ausländer leben (R=–0,60). So ist es vielerorts eine konservative Partei des ländlichen Milieus.

Dass die ADR nicht besser abschnitt, ist auch auf den Erfolg der Piratenpartei zurückzuführen. Addiert man die Stimmenzahl von ADR und Piraten, kommt man auf 18 Prozent sozial abgehängter Wähler, die sich dem liberalen Konkurrenzkampf um Einkommen, Arbeit und Bildung nicht gewachsen fühlen und sich von den linken Parteien keinen sozialstaatlichen Schutz mehr erwarten. Die ökoliberalen Globalisierungsgewinner und ihre Sprachrohre beschimpfen sie deshalb als Rassisten und Populisten, die Demagogen in Kostüm und Krawatte bedienen sich ihrer.

Soziale Frage gekapert

Vor zehn Jahren erwarb der Jungunternehmer Sven Clement günstig die schwedisch-deutsche Franchise „Piratenpartei“, um mit ihr als Wahlverein seinen Jugendtraum zu erfüllen und ins Parlament zu kommen. In einer ersten Etappe bemühte er sich erfolgreich um staatliche Parteizuschüsse, dann erreichten die Piraten im Oktober mehr als erwartet ihr Ziel.

Die Piraten schafften den Durchbruch, weil sie ihre Marke, die einst mit Urherberrechten und Datenschutz assoziiert wurde, restlos entkernten. Dann richteten sie sich kurz vor den Wahlen mit skrupelloser Sozialdemagogie und professioneller Wahlkampfausrüstung an die im Luxemburg der Bankpaläste und Porsche-Fahrer zu kurz Gekommenen. Für die Europawahlen am Sonntag hatten die Piraten ihre Botschaft noch einmal radikalisiert. Im Mittelpunkt ihrer aufwändigen Kampagne stand der sehr rechte Immobilienmakler Daniel Frères. Der Erstgwählte hatte sich als Beschützer der armen Hunde inszeniert. Denn am Fuß der sozialen Leiter kommen nach den zweibeinigen armen Hunden nur noch die vierbeinigen. Die soziale Metapher wurde verstanden.

Entsprechend typisiert erscheint die Wählerschaft der Piraten. In den Gemeinden mit den niedrigsten Medianeinkommen wurden sehr deutlich am meisten Piraten gewählt (R=+0,71), dort wo mehr RMG-Bezieher leben (R=+0,58) – aber, anders als für die ADR, unabhängig von der Einwohnerzahl, von Dorf oder Stadt. Andererseits ist die ADR-Wählerschaft im Gegensatz zur Piraten-Wählerschaft nicht signifikant vom Medianeinkommen der Gemeinden abhängig.

So tauchte am Sonntag auch ein wenig eine neue Arbeiterpartei auf: Zwischen dem Arbeiteranteil der Gemeinden und dem Wahlergebnis lag die Korrelation für die LSAP bei R=+0,21, für die KPL bei R=+0,47 und für die Piraten bei erstaunlichen R=+0,71. Keine andere Partei wurde in Gemeinden mit vielen Akademikern und Meistern so wenig gewählt wie die Piraten: R=–0,77 gegenüber R=–0,33 für die ADR.

Wobei gegenüber Oktober alle Korrelationen um einige Punkte deutlicher erscheinen. Insgesamt konnten die Piraten ihren Stimmenanteil um einen Prozentpunkt auf 7,7 Prozent erhöhen.

Kein linker Frühling

Der nach der Finanz- und Wirtschaftskrise angekündigte Frühling der Parteien links von der Sozialdemokratie in Europa, von Syriza über Podemos bis Insoumis, scheint zur Neige zu gehen.

Déi Lénk verlor sowohl gegenüber den Europawahlen 2014 als auch gegenüber den Parlamentswahlen 2018 Stimmenanteile und kam auf 4,83  Prozent. Allerdings fehlten ihr die persönlichen Stimmen der Parteiprominenz von 2014.

Die Kommunisten verlieren gegenüber allen Europawahlen seit 40 Jahren und blieben bei ihrem schwachen Ergebnis der Kammerwahlen: 1,14 Prozent. Sie waren im Wahlkampf die einzige Partei, die die Europäische Union in ihrer heutigen Form als nicht reformierbar ablehnte.

Zusammen kamen Linke und KPL auf weniger Stimmen als die Piratenpartei. Weder die einen noch die anderen konnten großen Nutzen daraus ziehen, dass die linksliberale Konkurrenz der Regierung angehört und entsprechend liberale Politik macht. Ein signifikanter Zusammenhang ihrer Wahlergebnisse mit denjenigen von LSAP und Grünen ist nicht festzustellen.

Wie bei den Kammerwahlen sind die Unterschiede zwischen beiden Parteien unübersehbar. Die KPL wurde vor allem in Gemeinden gewählt, wo viele Arbeiter wohnen (R=+0,47), während die Korrelation zwischen dem Arbeiteranteil und den Ergebnissen der Linken nicht signifikant ist.

Der Zusammenhang zwischen hohen Medianeinkommen und hoher Qualifikation mit der Linken-Wählerschaft ist nicht signifikant, bei den Kommunisten ist er dagegen deutlich negativ (R=–0,46 beziehungsweise R=–0,43). Die KPL ist die historische Arbeiterpartei, die von ihr abgespaltene Linke die Partei linker Intellektueller.

* Koeffizient nach Pearson zwischen R=–1 und R=+1: Liegt er über R=+1,2, zeichnet sich ein positiver Zusammenhang ab, ist er kleiner als R=–1,2, wird eine negative, „umgekehrte“ Korrelation erkennbar. Angaben aus 102 Gemeinden nach Volkszählung 2011, Indice socio-économique par commune 2017, amtlichen Wahlergebnissen 2013, 2018 und 2019.

Romain Hilgert
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