Die kleine Zeitzeugin

Der Feind ist hier

d'Lëtzebuerger Land du 13.03.2020

In Wien wünscht das erzbischöfliche Ordinariat, dass kein Weihwasser mehr ausgegeben wird, Ansteckungsgefahr! Das steht auf einem Schildchen im Weihwasserbecken der Pfarrkirche von Grinzing, wie wohl überall in der Stadt. In den Stephansdom dürfen nur noch motivierte Beter_innen, in Vorarlberg sind Gottesdienste abgesagt. Getauft und beerdigt wird nur noch im engsten Teufel_innenkreis. Und, beim Barte des Propheten, das Freitagsgebet ist untersagt!

Leider ist das Virus nicht mehr da, wo es hingehört, in einer schön gruseligen Ferne wie das brave Ebola-Virus, das sich an das Aufenthaltsverbot in Europa hielt. Im schön fernen, von Roboter_innen besiedelten China, wo tüchtige Geisterarmeen in Kampfanzügen walten, bald werden sie uns ein passendes Medikament verpassen. Das Virus bleibt nicht mal mehr in unserm geliebten Italien. Als Nachrichtennervenkitzel, Grusel mit Gothik, hochgradig poetisch auch noch. Leere grandiose Piazzas, auf denen Tauben lustwandeln, Kunst, de Chirico. Ach, diese Italiener, die kriegen auch nix auf die Reihe, jetzt können wir nicht mal mehr in die Uffizien! Huch, plötzlich ist alles so intensiv auf den Intensivstationen, übertrieben intensiv, jetzt sterben die auch noch, in echt. Warum eigentlich?

Ziemlich nah dieses Italien, nur die paar Berge dazwischen, da wird so ein Virus schnell mal rüber gepustet. Am Tag nach dem Einmarsch in Tirol stehen der Bundeskanzler, der Innenminister und der Gesundheitsminister stramm auf dem Bildschirm. No way! Das anscheinend hochbegabte Virus lässt sich aber nicht beeindrucken, nicht einmal als der rechtsextreme Ex-Innenminister ihm androht, sämtliche Flüchtlinge an der Grenze in Quarantäne zu stecken. Weil die Dahergelaufenen ja die idealen Viruswirte seien.

Zu dem Zeitpunkt spricht niemand von Lesbos, ist gerade out. Stattdessen steckt Karl Habsburg sich selbst in Quarantäne, Entscheidungsträger_innen weltweit lächeln optimistisch aus spartanischen Home-Settings. Ist das Virus also elitär? Oder reibt es uns die Klassenfrage erst recht unter die Nase – wer sitzt mit Leibarzt auf der Millionärsinsel und wer muss ins Massenlager?

Horst Seehofer will Angela Merkels Hand nicht drücken. Angela Merkel drückt sich, druckst herum und sagt „70 Prozent“ statt „Das schaffen wir“. In Wien dürfen 99 Menschlein zusammen in einen Raum, unter den Himmel dürfen 499. Oper, Burgtheater, große Museen und alle Schulen schließen, wobei Letztere, rätselrätsel, für unbetreute Kids offenbleiben. Die Kindergärten, in denen Rotz und Kotz am großzügigsten verteilt werden, rätselrätsel, noch nicht. Wer will auch die kleinen Virenschleudern? Nur nicht zu Oma und Opa, um die geht es ja schließlich!

Die öffentlichen Verkehrsmittel als optimale Viren-Rendezvous verkehren weiter, Händewaschen und Zufußgehen empfehlen die Zuständigen. In die Kniebeuge niesen! Kein Virus darf mehr ins Land, heißt es in den Nachrichten, zumindest kein italienischer. Durchreisende nur, wenn sie geloben, unterwegs nicht aufs Klo zu gehn. Ein Journalist denkt laut über Einsatz der Armee an der Grenze nach. Dort wird derzeit Fieber gemessen, rektal noch nicht, obschon es die zuverlässigste Variante ist.

Abstand wahren! Wenig Sozialkontakte! Wobei Wiener_in ja traditionell nur sparsam sozial kontaktiert, Kussattacken und ausufernde Umarmungen wie im temperamentvollen Luxemburg sind nicht Sitte. Kanzler Kurz warnt vor Familienfeiern. In Pflegeheimen gibt es Besuchsverbot. Als wären die je von Besucher_innen gestürmt worden. Und bloß nicht zu den Großeltern!

Solidarität mit Alten und Schwachen ist die Devise, rührend, womöglich ist doch kein globaler Greis_innenkahlschlag geplant.

Aber … noch mehr vor Bildschirmen isolierte Jugendliche? Und wie lange halten die Kids die Soli mit den Ureinwohner_innen durch? Wegen Oma und Opa nicht in der Disko knutschen, es könnte ihren Tod bedeuten?! Wie lange halten die Uris die Enkelabstinenz aus?

Wie lange geht Generationenapartheit?

Sind garantiert sterile Streichelroboterinnen, die in Asien schon bereitstehen, wirklich lebensfördernd?

Michèle Thoma
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