Es wird ein neuer Kinderrechtsbeauftragter gesucht. Ab nächstem Jahr verfügt er oder sie über die nötigen Ressourcen, um Kinderrechte wirksamer zu verteidigen

Etabliert und erwachsen

d'Lëtzebuerger Land vom 27.11.2020

„Manchmal saß eine Mutter oder ein Vater bei mir und sagte im Brustton der Überzeugung, sie wolle das Beste für ihr Kind. Dann musste ich aufklären: Ihr streitsüchtiges Verhalten schadet dem Kind.“ Gespräche mit zerstrittenen Eltern und ihren Kindern zu führen, war nur eine von vielen Einsatzbereichen des scheidenden Kinderrechtsbeauftragten René Schlechter. Aber sie kamen öfters vor: Laut soeben veröffentlichtem Abschlussbericht 2019 fanden 23 von 109 Beratungsgesprächen im Kontext von Scheidung statt. „Wenn Eltern über ihre Kinder Druck auf den Ex-Partner ausüben, kann das für die Kinder nicht gut sein“, ist der Kinderpsychologe vom ehemaligen Ombudskomitee fir d’Rechter vum Kand überzeugt (ORK), das neuerdings Ombudsman für Kinder und Jugendliche (Okaju) heißt.

Rosenkriege, in denen unwillige Partner ihre ökonomisch machtvollere Position ausnutzen und Trennungen über Jahre hinziehen, seien deutlich seltener geworden, dem neuen Scheidungsrecht sei Dank. „Dass nicht mehr fünf oder sechs Richter, sondern ein Familiengericht über das gesamte Verfahren wacht“, sei eine Verbesserung gegenüber dem alten Recht, sagt Schlechter. Bei gewalttätigen Eltern könne sich das geteilte Sorgerecht wohl negativ auswirken, „aber es ist gut, dass grundsätzlich beide Elternteile für das Kind dieselbe Verantwortung tragen“. Paare, die die Scheidung wollen und über das Wohnrecht, den Besuch und die Erziehung ihrer Kinder streiten, landen oftmals bei ihm. „Wir haben viele konfliktvolle Fälle“, bedauert Schlechter.

Nach acht Jahren gibt der Kinderrechtsbeauftragte sein Amt zum Jahresende ab und geht in Rente. Ein/e Nachfolger/in wird gesucht; offenbar gibt es vier aussichtsreiche Kandidat/innen in der letzten Runde, die aber wegen der Corona-Pandemie noch nicht alle gehört wurden. Schlechter verlässt seine Stelle mit einem Erfolg, der bis zuletzt unsicher schien: Das Amt untersteht nicht länger dem Erziehungsministerium, sondern ist dem Parlament allein Rechenschaft schuldig, ein echter Fortschritt, da mit mehr Unabhängigkeit verbunden. Zudem wird das Team ab nächstem Jahr vergrößert, um neue Kompetenzbereiche anzugehen, darunter Weiterbildung und Schulung. Das Budget wurde substanziell erhöht und die Anlaufstelle ist in größere Räume in die Route d’Arlon umgezogen.

Das Scheidungsrecht ist eine der Reformen, die Schlechter besonders begrüßt. Nur: Dass es 20 bis 30 Jahre gebraucht hat, um überkommenes Recht zu überarbeiten, „kann ich nicht verstehen“, sagt er ratlos. Bei Kinderrechtsthemen komme der Gesetzgeber oft nur sehr langsam voran: „Die Reform des Jugendschutzgesetzes ist ebenfalls so ein Langzeitprojekt, über das seit Jahrzehnten gestritten wird“, bedauert Schlechter. Immerhin: Ein erster Vorentwurf für ein neues Kinder- und Jugendstrafrecht, das für eine präzisere Trennung zwischen Schutz- und Strafgedanken sorgen soll, liegt auf dem Tisch; er soll nun mit den verschiedenen Akteuren beraten werden. Offenbar hat die Expertise durch die ehemalige Richterin und UN-Kinderrechts-Sonderbeauftragte Renate Winter aus Österreich geholfen, das Dossier voranzubringen. Die Verhandlungen zum zweiten Teil dürften abermals kniffelig werden: Dort stehen so strittige Themen wie die automatische Übertragung des elterlichen Sorgerechts an Institutionen, die nur noch im Ausnahmefall erfolgen soll, was aber bei Pflegeeltern mit etlichen Schwierigkeiten behaftet wäre. Oder die Frage, ab wann Kinderrechtsfälle dem Gericht vorzulegen sind.

Eine Herzenssache Schlechters war es, Kinderrechte in die Verfassung einzuschreiben: Weil aber eine Zweidrittel-Mehrheit für eine Verfassungsänderung nötig ist und sich die Regierungsmehrheit mit der CSV-Opposition bisher nicht einig werden konnte, stockt der Prozess. „Da haben wir den Zug verpasst“, so René Schlechter, und der sonst sehr ruhig und milde auftretende Mann klingt mit einem Mal verärgert. „Wir waren stolz auf den Fortschritt und jetzt kommt es nicht dazu – eine verpasste Gelegenheit.“ Schuld daran sei, so analysiert er, eine Politik, „die auf Kosten der Kinder taktiert. Was wir brauchen ist, dass Kinderrechte Chefsache werden“. Schlechter würde sie am liebsten prominent beim Staatsministerium ansiedeln.

Verdrossen oder gar verbittert blicken Schlechter und sein Team dennoch nicht zurück: „Sicherlich ist in den vergangenen Jahren viel geschehen“, räumt Schlechter ein. „Wir stehen heute, dank Kinderanwalt, Familiengericht und Jugendhilfegesetz woanders, als wir noch vor zehn, 20 Jahren standen.“ Beunruhigt ist der Kinderpsychologe trotzdem: Kinder hätten es heute nicht leichter als früher, Stichwort: Vernachlässigung, (Schul-)Stress, Arbeitslosigkeit. In vielen Familien sind beide Eltern berufstätig, weil sonst das Geld für den Lebensunterhalt nicht reicht. Kinder, die mit nur einem Elternteil zusammenleben, geraten häufiger in Existenznot. Sie sind einem 3,5 mal höheren Armutsrisiko ausgesetzt als andere Kinder; und diese Armut dürfte sich mit den wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie noch verschärfen. Die Wohnungsnot belastet Familien ganz besonders. „Dabei ist es viel teurer, auf längere Sicht gerechnet, eine Familie auf die Straße zu setzen, als ihr würdigen Wohnraum zu bieten“, betont Schlechter. Trotzdem würden Kinderarmut und ihre Folgen nicht ernst genug bekämpft.

Dasselbe gilt für andere Themen, wie die Beteiligung, die die von Luxemburg ebenfalls ratifizierte UN-Kinderrechtskonvention vorschreibt: Kinder und Jugendliche teilhaben zu lassen an Entscheidungen, die sie oder ihre Zukunft betreffen, geschieht noch immer zu selten. Das heißt, ihre Meinung anzuhören, nicht nur in persönlichen Lebensfragen. In Scheidungsverfahren ist es mittlerweile Usus, im Konfliktfall bekommen Kinder einen Anwalt zur Seite gestellt, der ihre Perspektive verstehen und vermitteln soll – sofern das Gericht dies bewilligt. Aber es gibt zu viele Situationen, in denen betroffene Eltern berichten, sie oder ihr Sohn oder Tochter seien nicht angehört worden. Das betrifft den Jugendhilfebereich, wenn Gerichte Erziehungshilfen verordnen, Jugendhilfeeinrichtungen, Jugendpsychiatrie und Schulen diese umsetzen und Kinder und Jugendliche kaum bis gar nicht einbeziehen. Wenn überhaupt ein Jugendlicher direkt mit einer Maßnahme beginnen kann: Die wenigen Plätze sind oft vergeben und die Wartezeiten mitunter lang. Wartezeiten, während denen sich das Leid der Kinder vertieft, etwa bei Flüchtlingskindern, die seit Jahren in Luxemburg leben, hier zur Schule gehen, die Sprache sprechen und doch keine Aufenthaltsgenehmigung bekommen. „Das ist nervenaufreibend und belastend, ganz besonders für die Kinder“, betont Schlechter. „Ich kann nicht nachvollziehen, dass manches Asylverfahren sechs Jahre dauert, um dann negativ entschieden zu werden.“

Auch bei komplexeren Themen, wie der Corona-Pandemie und ihren Auswirkungen, wünscht sich Schlechter, die Politik solle die Kinder und ihre Lebensrealitäten stärker einbeziehen: „Diese Krise betrifft die Kinder besonders stark, sei es durch fehlende Sozialkontakte, weil sie in einem konfliktreichen Elternhaus leben oder weil sie nicht das machen können, was die Lebensphase sonst bestimmt: Freunde treffen, herumhängen, Spaß haben.“ Schlechter macht sich Sorgen über die psychischen Folgen, die der Lockdown und das Social Distancing auf Kinder und Jugendliche haben werden: „Die lassen sich noch gar nicht abschätzen.“ Selbst während Corona bleibt die systemische Nachlässigkeit gegenüber Kinderanliegen: So seien die Spielplätze einer der letzten Orte gewesen, die nach dem ersten Lockdown zugänglich gemacht wurden.

Es gibt aber auch Bereiche, wo der Kinderrechtsbeauftragte selbst nicht so präsent war, wie man es hätte erwarten können: bei jugendlichen Straftätern etwa. Es waren die Ombudsfrauen Lydie Err und Claudia Monti, die in ihren Kontrollberichten deutliche Worte gegen das Einsperren von Kindern in der Erwachsenen-Strafanstalt fanden. Monti und ihr Team verurteilten die nicht menschenrechtskonformen Haftbedingungen scharf. Eine breite Koalition von Ombudsfrau, ORK und Menschenrechtskommission, die anhaltende internationale Kritik sowie eine neue Regierung brachte schließlich Bewegung in eines der traurigsten Kapitel des hiesigen Jugendschutzes. Dass es eines breiten Bündnisses bedurfte, liegt weniger an Schlechter selbst, sondern daran, wie die Politik das Amt von Anfang an ausgestattet hatte: Die Kernaufgaben bestanden in persönlichen Beratungsgesprächen. Kontrollbesuche und juristische Prüfungen waren kaum möglich, weil es an Personal, Finanzmittel und an juristischem Sachverstand mangelte. Das änderte sich, als mit Françoise Gillen eine Juristin zum Team hinzustieß.

Dazu kommt: Kommunikation und Vehemenz zählen nicht gerade zu den Stärken des ruhigen, stets auf Ausgleich und Kompromiss bedachten René Schlechter, das gibt er freimütig zu. Zum Umgang des Systems mit Flüchtlingskindern, der ihn viel beschäftige, sagt er: „Das ist extrem problematisch.“ Klare Kante zeigen und entschieden Gegenposition zu beziehen, war nicht immer sein Ding. Die jährlichen Vorstellungen der Tätigkeitsberichte waren eine zähe Angelegenheit mit wohlmeinenden Appellen, aber wenig Durchschlagskraft und fehlendem rotem Faden. Selbst auf seine Arbeit zurückblickend, sagt Schlechter: „Es wäre gut, wenn die nächste Ombudsfrau oder -man sich besser als ich um besondere Einzelfälle kümmern könnte.“

Was zur Frage führt, welches Profil als Nachfolger/in für die Stelle gesucht wird: Mit der Jugendschutz- und der Vormundschaftsreform stehen zwei für Kinder in Not zentrale Gesetzesänderungen aus. Dafür braucht es einen kenntnisreichen Beistand, der sich nicht einschüchtern lässt. Der jahrzehntelange Paternalismus von Behördenvertretern, die per se meinen besser zu wissen, was gut oder schlecht sein soll für Kinder (dies teils ohne belastbare Daten zu haben, eine weitere Riesenlücke), ist tief eingelassen in das System von Jugendschutz, Jugendhilfe und sogar der Schule. Jugend(sozial)politik ist vorwiegend institutionell bestimmt und wird traditionell aus dieser Warte heraus betrachtet und umgesetzt. Bis heute fehlt eine Feedback- und Beteiligungskultur, die den Namen verdient, die die Meinung und Bedürfnisse der Kinder und Jugendliche konsequent und von Anfang an einbezieht und dies nicht als Pflichtübung oder als Feigenblatt. Und die auch die Arbeit des/der Kinderrechtsbeauftragten nicht verschont.

Ines Kurschat
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