Zwischen Schnitzeljagd und Science-Fiction-Trip: Die neue Kreation der  Volleksbühn De Bësch ist ein Theatererlebnis in den Wäldern Luxemburgs

Im Dickicht der Wälder

d'Lëtzebuerger Land vom 01.10.2021

Mehr noch als der Besuch eines Bühnenstücks ist dieser Abend eine subjektive Erfahrung, einen gewohnten Ablauf nimmt die vierte Produktion des Theaterkollektivs Volleksbühn wirklich nicht. Denn De Bësch spielt in den kommenden Wochen in drei verschiedenen Wäldern in verschiedenen Landesteilen Luxemburgs: in dem Kuelespaacher Bësch in Niederanven, im Süden des Landes, auf dem Gaalgebierg und im Ösling, in Kierbëchel Wahl. Wege und Wälder sind überall anders, so ist der Trip durch das Dickicht als sinnliche Erkundung garantiert.

Unkonventionell ist schon die Anfahrt. Ein Bus-Shuttle bringt die ZuschauerInnen vom Theater, etwa dem Kinneksbond in Mamer, zum Wald in Niederanven. Im Bus werden Taschenlampen verteilt und man wird eingestimmt auf das Erlebnis: „Wir sitzen alle in Platons Höhle“, erklärt ein weiblicher Grottenolm, Rebellin Maria (Rosalie Maes), und versucht, die Angekarrten in vier Sprachen in eine Science-Fiction-Welt zu versetzen.

“Imagine – there is a party, that doesn’t end...!” Die Menschen seien ins Millacrum geraten: eine kollektive Illusion! Nic, the Fugitive (Konstantin Rommelfangen) ruft hingegen etwas verzagt von der hintersten Busbank Matrix hervor. Das Missilium kämpfe für eine Welt ohne Hierarchien, schreit Rosalie Maes durch den Bus. Programmatische Satzfetzen fliegen einem um die Ohren: Die Entscheidungsfreiheit sei eine Illusion. Ziel sei es, die Menschen aus ihrem Schlaf aufzuwecken! Schon jetzt stelle sich die Frage nach der Wahrheit. Die Regeln: Man bleibe bei dem Trip allein. Denn sonst gerate man in Kontakt mit Menschen, die das System überwachten ... Die Wächter im Wald seien „uns freundlich gesinnt“, wegweisende Gefährten. Dann geht es in den Wald. Die ZuschauerInnen zerstreuen sich – man stößt auf unterschiedliche Klanginstallationen beleuchtet mit Neon-Licht, die einen gleichermaßen an- und abstoßen.

Ein verwaistes Telefon im Wald klingelt. Nic, the Fugitive reicht einem den Hörer mit den Worten: “For you!” Immer wieder stößt man beim Irren durchs Gebüsch auf an die Bäume gepinnte Vermisstenanzeigen: “Have you seen this person? Charles Rocard!”

Eine Soundinstallation mit Spiegeln am Boden verunsichert ebenso wie aus der Ferne lockende, surrende Stimmen ... Die Gestalten, denen man begegnet und folgen kann: ein herumirrender Professor, Nic, the Fugitive; Elisabeth, the Agent oder Victor, the Journalist... Ein Diskoeffekt wiederholt in der Dauerschleife in einer bunten Soundinstallation: “I don’t believe in reality.”

Ein umherirrender alter Mann mit einer Laterne (Denis Jousselin) wiederholt den Satz « Je ne lutte pas contre mon ombre, je lutte contre la transparence » wie eine Kassette mit Riss und klopft an eine verwaiste Tür mitten im Wald, bevor er an einem beleuchteten Schaustellertisch Platz nimmt und enigmatisch erklärt: „Wir waren auf der Suche nach der Wahrheit. Ich habe die Unsterblichkeit erfunden und Gott getötet.“ Die ganze Welt suche ihn.

Ein magischer Moment, wenn der Lehrer an dem mit bunten Lampen beleuchteten Tisch zu malen beginnt. Der Journalist Victor (Pitt Simon) wird aus dem Dickicht in Erscheinung treten: « Vous-êtes Charles, le professeur? », um hastig davon zu eilen. Später wird Charles an einem einsamen Tisch Platz nehmen und alleine seinen Geburtstag feiern.

Ein Mooskuchen mit einer Kerze. Eine verwaiste Schreibmaschine, eine Lampeninstallation mit Spuren menschlichen Lebens. Die einzelnen Stationen im Wald sorgen für sinnliche wie beklemmende Momente. Zur Stärkung geht es an die Buvette, an dem Scouten ein Chili con oder sin carne servieren. Hartgesottene zieht es noch einmal in den Wald, wo die DarstellerInnen mit herrlicher Situationskomik improvisieren. Tom, the guide (Dominik Raneburger), greift auf Zuruf des Publikums Stichworte auf und rettet eine Prinzessin, einen Zwerg und deklamiert schließlich Fragmente eines anderen Theaterstücks, während ein Flugzeug rauschend über den Wald brettert: „Die Cargolux liefert wohl wieder Bananen ...“ Der Luxemburger Realität vollendet zu entfliehen, ist selbst in den Wäldern nicht möglich.

De Bësch ist ein anspruchsvoller Theatereinstieg – in seiner Mehrsprachigkeit richtet es sich an ein akademisches, bioluxemburgisches Publikum und schließt durch den Marsch durch unebene Waldwege Menschen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind, aus. Das Science-Fiction-Szenario dient hier als Leitmotiv und große Klammer. Wie in Bert Brechts „Im Dickicht der Städte“ verzichtet es auf jede nachvollziehbare Handlung und schafft beklemmende, surrealistische Bilder und Momente.

Diejenigen, die gern in der Natur herumstreunen, keine Witterungsverhältnisse scheuen und offen sind für Neues, können De Bësch als sinnlichen Erfahrungstrip genießen. Jenseits des Konventionellen ist das Stück ein multisensorisches Abenteuer im Freien, das gerade in Zeiten der Covid-19-Epidemie wegen der sanitären Bestimmungen wie der beklemmenden Erfahrung vermeintlich ‚geheimer Mächte’, die die Welt angeblich unterwandern, wirklich „Sinn“ macht.

De Bësch, eine mehrsprachige Performance (LU, EN, FR, DE), basiert auf der Idee von Max Jacoby & Anne Simon (Text & Regie). Koproduktion: Volleksbühn, Kinneksbond, Centre Culturel Mamer, CAPE-Centre des Arts Pluriels Ettelbruck, KUFA Esch, Aalt Stadhaus, Differdange, Trifolion Echternach, Kulturhaus Niederanven, Prabbeli Wiltz, Artikuss Zolwer, Mierscher Kulturhaus.

Abfahrt an den jeweiligen Spielstätten um ca. 18.30 Uhr; oder, falls Sie mit dem Auto anreisen, um ca. 19 Uhr am Veranstaltungsort. Kuelespaacher Bësch, Niederanven (Abfahrt von: Echternach, Mamer, Niederanven): am 24., 25. und 26. September. Gaalgebierg, Belvaux (Abfahrt von Soleuvre): am 1., 2. und
3. Oktober. Kierbëchel Wahl (Abfahrt von Ettelbruck, Mersch Wiltz): am 8., 9. und 10. Oktober.

Anina Valle Thiele
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