Die kleine Zeitzeugin in der Sonne, die plötzlich da ist

Sie ist uns erschienen!

d'Lëtzebuerger Land vom 12.04.2024

Die Stadt, in der ich einen verlängerten Auslandsaufenthalt absolviere, wird Anfang April vom Sommer befallen. Die Stadt liegt nicht im tiefen Süden, sie liegt im nahen Osten, sie heißt Wien.

Die Menschen stehen und schauen, denn die Sonne ist ihnen erschienen. Schon murmeln sie es in die Handys und hauen es in die Tastaturen. Manche liegen nur noch flach. Anderen schwindelt. So viele Grad gerade! Gratis auch noch. Verdattert stehen sie auf der Straße, in ihren Festungen aus grauem Winterspeck, die Mäntel haben sie ausgezogen und die Pullover und so ziemlich alles. Sie stehen an einem Wasser, in das sie mit ungläubigen Schritten hineingehen, in einem Licht, das sie so nicht kennen, ihre Körper blendend weiß wie in schwedischen Filmen der Sechzigerjahre.

Das Licht ist neu, die Welt ist neu, nur die plötzlich enthüllten Körper nicht, das Fleischkleid sitzt überhaupt nicht mehr, wo kriege ich ein neues her? Nebenan boomt die Jugend, lauter blühende Menschen, die aber nicht mehr so genannt werden wollen, niemand will mehr blühen, niemand will mehr reif sein, niemand will mehr biologisch sein. Komisch, so verrutscht daneben zu stehen im OP-Licht des radikalen Frühlings, wo ist der gnädige Sahara-Schleier, wann wird er geliefert? Der Dreck, wie der Gratisdünger, der so großzügig vom Himmel fällt, Jahr um Jahr, in Luxemburg diskriminierend genannt wird. Gottseidank wird aber gewarnt, wegen den Autos.

Schönes Wetter, sagen die Menschen, und es ist auch schön. Alles ist schön. Und so schön groß plötzlich. Das Grün ist so groß. Die Kastanienbaum gegenüber präsentiert schon stolz seine erigierten Kerzen, was eine Sensation ist, seit Jahrzehnten erblüht dieser Kastanienbaum pflichtbewusst zum ersten Mai. Und jetzt jetzt. Zehnter April. Irgendetwas hat ihn aus seinem gemütlichen Kastanienbaumtrott gebracht, vielleicht macht er jetzt was Neues.

Die Insekten sind auch groß. Wo doch immer gesagt wird, es gäbe gar keine mehr. Es hummelbrummelt, was eigentlich gar nicht im Programm vorgesehen ist, ein Programm scheint es gar nicht mehr zu geben, Regie schon gar nicht, der Spielplan ist ein einziges Chaos, geiles Chaos, muss man sagen, jedes macht was es will, überdimensionale Bienen, oder sind es Wespen, oder Hornissen, schießen kopflos herum, sie haben offensichtlich keinen Plan auf diesem Planeten. Eine Mutation vielleicht, die gerade, bitte schön, fühlt euch wie zuZuhause, auf meinem Balkon stattfindet. Oder sind das die berüchtigten Zugezogenen, die die Alteingesessenen unter Druck bringen? Und bitte, Frau Schwarze Spinne, warum rede ich Spinnen immer in der Weiblichkeitsform an?, die Sie gerade, natürlich um Mitternacht, Einzug in meine Küche gehalten haben, wer sind denn Sie? Vielleicht die Schwarze Witwe persönlich? Ich kenne Sie nicht, ich muss gestehen, ich habe Sie noch nie gesehen mit Ihren langen haarigen Beinen rund um einen durchaus stattlichen Leib, wie Sie so in pseudo-entspannter Lauerposition in meiner Küche Stellung bezogen haben. Ja, es ist warm.

So schön, so schön, raunen wir in die Handys, etwas komisch fühl ich mich schon, zwar. Es ist irgendwie keine Luft da. Das Herz macht irgendwas. Ich möchte nichts machen. Ich möchte nur sitzen und schauen. Ich möchte nur sitzen und alles schön finden, was rund um mich explodiert. Blühen nennt man das. Sonst nichts. Ich lese junge Kolumnistinnen, die sich fragen, ob man das kann. Darf. Einfach Sonne tanken und sich mit Sonne vollstopfen. Ich lese alte Kolumnisten, die auch alles schön finden und schon wissen, dass es bekömmlich ist, schön zu finden. Genießen Sie!, schreiben sie milde. Genießen Sie dieses herrliche Wetter! Aber. Aber. Dann kommt ein dickes Aber. Dann kommt das dicke Ende.

Aber wer will jetzt an so was denken, wer will überhaupt denken, was ist das, denken? Alles Wichtige weiß man gerade. Alles Wichtige ist gerade da. In der Sonne schnurren und ein Eis schlecken, das so schnell schmilzt wie ein Gletscher.

Michèle Thoma
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