Das neue Kulturviertel Plateforme 10 in Lausanne: Krönung und Ende einer Epoche?

Kunstfelsen am Bahnhof

d'Lëtzebuerger Land du 19.08.2022

Kurz vor Schluss sind die Pyramiden am schönsten. Am Ende des Wohlstands sind nicht nur Wolkenkratzer beliebt: In der Schweiz wurde in praktisch jedem der letzten 25 Jahre mindestens ein grandioser Museumsbau eingeweiht. Das Nationalmuseum und die Kunsthäuser von Basel und Zürich wurden erweitert; am Rand von Bern wellen sich die Dachbögen des Zentrums Paul Klee; Genfs neues Völkerkundemuseum ist eine Pagode; auch kleinere Städte wie Aarau oder St. Gallen vergrößerten ihre Musentempel; Luzern und Lugano haben ihre Kunstmuseen mit Konzertsälen zu Kulturzentren kombiniert.

Das neue Kunstquartier Plateforme 10 in Lausanne vereint drei Museen, die zuvor über die Stadt verstreut waren. Zur offiziellen Eröffnung am 18. Juni kamen rund 30 000 Besucher auf das Gelände des ehemaligen Lokdepots. Das Datum war etwas willkürlich, denn der Neubau des Musée cantonal des Beaux-Arts (MCBA) ist schon seit 2019 zugänglich, während der Umzug von Photo Elysée und Musée cantonal de design et d’arts appliqués contemporains (Mudac) noch nicht ganz abgeschlossen ist. Auch der Umbau eines alten Stellwerks zur Kunsthalle und ein botanischer Lehrpfad fehlen noch.

Mit dem Museumsviertel, so groß wie fünf Fußballfelder, verbinden sich ambitionierte Hoffnungen. Nicolas Bideau, der Direktor der Nation-Branding-Agentur Präsenz Schweiz, sieht es als künftiges Muss für ausländische Delegationen: „potentiell in der gleichen Kategorie“ wie das Museumsquartier in Wien oder das Centquatre in Paris. Von Mailand wie Paris per Bahn nur einen Tagesausflug entfernt, werde Plateforme 10 einen prominenten Platz in der Kulturlandschaft erobern, jubelt das Schweizer Radio und Fernsehen: „Lausanne steigt in die 1. Klasse auf“. Die Neue Zürcher Zeitung konzediert immerhin einen „neuen Fixstern am Schweizer Museumshimmel“.

Dabei hatte das schließlich über 186 Millionen Schweizer Franken teure Projekt mit einem Fehlschlag begonnen. Das MCBA sollte eigentlich schon vor zehn Jahren fertig werden. Zwei Zürcher Architekten hatten dafür einen „skulptural geschliffenen Fels“ entworfen, auf einer eigenen Halbinsel im Genfer See, samt Dachterrasse mit Mont-Blanc-Blick. Bei einer Volksabstimmung im Jahr 2008 siegten aber Gegner des „Betonbunkers“. Der Kanton Waadt hatte damals Geldsorgen; vielen war auch der geplante Standort neben dem Strandbad Bellerive zu abgelegen. Unverdrossen besorgte sich darauf der Kanton mit komplizierten Grundstückstausch-Geschäften das brachliegende Areal direkt neben dem Hauptbahnhof Lausanne, am Hang unter der Esplanade de Montbenon mit der Cinématèque Suisse und über dem Parc de Milan mit dem Botanischen Garten.

Mit der Neuplanung des Kunstmuseums wurden Fabrizio Barozzi und Alberto Veiga beauftragt. Die beiden Architekten aus Barcelona hatten sich zur Zeit der Finanzkrise ganz auf internationale Wettbewerbe verlegt und waren mit dem Philharmonie-Gebäude in Stettin berühmt geworden. In Chur haben sie ein Kunstmuseum gebaut, das einem Kachelofen ähnelt. Dagegen erinnert ihr MCBA an einen Heizkörper: ein massiver grauer Quader mit drei Etagen, entlang der Bahngleise mit einer weitgehend geschlossenen Fassade, zur Altstadt hin Fenster zwischen tiefen Backsteinrippen. Der Architekturkritiker Philip Jodido will von Vergleichen mit einem Radiator oder einer Schuhschachtel nichts wissen: Wie bei anderen Schweizer Museen sieht er auch in Lausanne „eine mineralische Strenge“. Einen Kunstfelsen.

Von der Bahn-Remise, die eigentlich denkmalgeschützt war, haben Barozzi und Veiga nur wenige Fragmente übrig gelassen: vor dem MCBA eine Drehscheibe und im Boden belassene Gleisstücke, im gleißend weißen Foyer ein monumentales Rundbogenfenster und an der fensterlosen Ostwand der Umriss einer ehemaligen Lokhalle. Mit 3 200 Quadratmetern ist die Ausstellungsfläche des MCBA jetzt drei Mal größer als seine früheren Oberlichtsäle im Palais de Rumine, das nun einem neuen Naturmuseum überlassen wird. In der einen Gebäudehälfte wird die Sammlung präsentiert, die andere ist für drei große Sonderausstellungen pro Jahr gedacht. Die imposanten Räume sollen auch Mäzene anziehen. Zur Eröffnung des Neubaus hat die Lausanner Galeristin Alice Pauli dem MCBA unter anderem Werke von Anselm Kiefer und Rebecca Horn geschenkt und für die Eingangshalle einen 15 Meter hohen Bronzebaum von Giuseppe Penone.

Zusammen mit dem MCBA sind auch zwei Stiftungen untergebracht: Die Fondation Toms Pauli bewahrt über 100 wertvolle Wandteppiche und Textilkunst, die ein englisches Unternehmer-Ehepaar zusammengetragen hat; die Fondation Félix Vallotton verwaltet das Archiv des berühmtesten Lausanner Künstlers. Vallottons 100. Geburtstag soll 2025 groß gefeiert werden.

Da das Kunstmuseum nur einen Teil des früheren Bahngeländes einnimmt, ist davor eine lange Allee frei geworden, die Teil eines neuen Rad- und Fußwegs quer durch Lausanne wird. Gesäumt wird sie hangseitig von 14 Arkaden, in die Ateliers, Cafés und kleine Läden einziehen sollen. Am westlichen Ende des neuen Platzes haben die Lissabonner Architekten Manuel und Francisco Aires Mateus einen Kubus für das Foto- und das Design-Museum errichtet. Der mit weißem Marmor verkleidete Kristall wird von einem blitzartig gezackten Fensterband geteilt: Die obere und die untere Gebäudehälfte berühren sich lediglich mit drei Säulen in der nach allen Seiten offenen Eingangshalle, die ansonsten gemeinsame Einrichtungen wie Empfang, Cafeteria und Museumsladen beherbergt.

In dem Betonwürfel verdoppeln beide Museen im Vergleich zu ihren bisherigen Standorten ihre Ausstellungsflächen, auf jeweils rund 1 500 Quadratmeter. Photo Elysée war 1985 unter dem Namen „Musée de l’Elysée“ als erstes Fotomuseum der Schweiz gegründet worden und früher in einer Villa im Parc Olympique in Ouchy untergebracht. Im lichtgeschützten Erdgeschoss des Aires-Mateus-Baus präsentiert es jetzt eine Auswahl seiner ständig wachsenden Sammlung. Zu den mittlerweile mehr als 1,2 Millionen Originalfotos gehören zum Beispiel frühe Farbbilder von Gabriel Lippmann und der Nachlass von Charlie Chaplin. Neu ist ein eigener Raum für digitale Experimente. Das früher neben der Kathedrale ansässige Mudac zeigt im Obergeschoss in Oberlichträumen Design, Mode und Grafik. Seine Sammlung ist besonders für Glaskunst bekannt.

Zur Eröffnung von Plateforme 10 widmen alle drei Museen dem naheliegenden Thema
Eisenbahn Sonderausstellungen. Dabei wurden Exponate verschiedener Sparten ausgetauscht, trotzdem bleibt jede Institution ihrem jeweiligen Schwerpunkt treu: Malerei, Fotos und Design. Im MCBA sind zum Beispiel melancholische Gleislandschaften von Edward Hopper zu sehen. Photo Elysée zeigt unter anderem Bahn-Fotos von Ella Maillart und René Burri, aber auch einen Film der Brüder Lumière von 1895. Das Mudac hat sich von drei Westschweizer Autoren einen „Roman de Gare“ schreiben lassen. Zu diesem Groschenroman über die imaginäre Eisenbahnstadt Terre-des-Fins ist seine Ausstellung nun eine Art Filmkulisse.

Werden die eigenständigen, längst etablierten Museen auch künftig kooperieren? Das könnte eine spannende Frage werden, denn der Direktor des MCBA und die Direktorinnen des Foto- und des Designmuseums, die für Neubauten und Umzug verantwortlich waren, gehen dieses Jahr alle in Pension – und ihre Nachfolger werden sich vielleicht profilieren wollen. Für Koordination soll Patrick Gyger sorgen: Der Historiker, Sci-Fi-Spezialist und ehemaliger Leiter der Maison d’Ailleurs in Yverdon-les-Bains, beziehungsweise des Lieu Unique in Nantes, amtet jetzt als Generaldirektor des Lausanner Kulturdistrikts. Zugänglich sind die Museen jedenfalls mit einem einheitlichen Billett, und am ersten Samstag im Monat ist der Eintritt frei.

Plateforme 10 ist möglicherweise der vorerst letzte große Schweizer Museumsbau. Fertiggestellt wird wohl auch noch die Erweiterung der Fondation Beyeler bei Basel: Für den „kleinen kantigen Kunstfelsen“ des Architekten Peter Zumthor war in diesem Mai Spatenstich. Ein in Beinwil am See geplantes Museum asiatischer Kunst wurde dagegen via Grünzone verhindert. In Genf scheiterte die von Jean Nouvel geplante Erweiterung des Kunstmuseums an einer Volksabstimmung; für ein kleineres Nachfolgeprojekt gibt es noch nicht einmal einen Architektenwettbewerb. In Bern soll ein Museumsquartier ab 2030 das Kunstmuseum und den Nordteil der Altstadt ersetzen, aber die Referenden dazu stehen noch aus – und in Krisenzeiten neigt Schweizer Stimmvolk nicht dazu, Kredite zu genehmigen. Wer jetzt kein neues Kunsthaus hat, baut sich so schnell keines mehr.

Das Kunstquartier in Lausanne kreist noch bis 25. September um das Thema Train Zug Treno Tren. Zu den Eröffnungsausstellungen sind drei Begleitbände erschienen: Imaginäre Reisen (MCBA), Treffen wir uns am Bahnhof (Mudac) und Freie Bahn (Photo Elysée) auf Deutsch im Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich, auf Französisch bei Éditions Noir sur Blanc, Paris

Martin Ebner
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