Türkei

Eine Scheinreform

d'Lëtzebuerger Land du 07.06.2019

Dass man in der Türkei Anfang der 90er Jahre abseits der Propaganda des türkischen Staates einerseits und der PKK andereseits endlich etwas über die Männer und Frauen erfuhr, die in den kurdischen Bergen kämpften, dafür sorgte Kadri Gürsel. Gürsel, der als Korrespondent der französischen Nachrichtenagentur AFP aus den kurdischen Gebieten berichtete, war von Kämpfenden der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) entführt worden. Aus seiner zweimonatigen Odyssee durch die kurdischen Berge entstand ein Buch. Zum ersten Mal konnten türkische Leser eine objektive Reportage über die Vorgänge dort lesen.

Gürsel, der bald ein angesehener Analyst internationaler Politik wurde, avancierte schließlich zum Vorstand des Internationalen Presseinstituts (IPI) in Wien.

Seit vergangener Woche steht Gürsel im Mittelpunkt des jüngsten Justizskandals des längst durch Justizskandale charakterisierbaren autoritären Regimes in der Türkei. Gürsel war auf einem Foto zu sehen, das die gleichgeschalteten türkische Medien wie auf Knopfdruck verbreiteten: Gekleidet in einem weißen Sakko, streckt er seine Arme nach vorne, während zwei junge türkische Polizisten, einer mit Sonnenbrille, ihm Handschellen anlegen.

Was war geschehen?

Gürsel war bereits 2016 zusammen mit weiteren Journalisten verhaftet worden. Nach elf Monaten wurde schließlich der Haftbefehl aufgehoben. Wiederum einen Monat später verurteilte ihn ein Gericht wegen seiner journalistischen Arbeit zu zweieinhalb Jahren Gefängnisstrafe – angeblich, weil er Terrorpropaganda verbreitet hatte, eine der mittlerweile landesweit abgedroschensten Anklagen seitens des türkischen Regimes. Da Gürsel bereits elf Monate in Untersuchungshaft verbracht hatte, musste er laut Gesetz freigelassen werden. Stattdessen wurden ihm vor Pressefotografen Handschellen angelegt und er wurde ins Gefängnis eskortiert. Dort wurde ihm offiziell vorgelesen, er sei frei und könne wieder nach Hause gehen. Offensichtlich dient diese dann auch noch medial intensiv verbreitete Behandlung durch das Regime der öffentlichen Demütigung. Und natürlich der Abschreckung anderer, aufmüpfiger und allzu kritischer Journalisten.

Einen Tag nach Gürsels kafkaesker Freilassung, verkündet der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan in einer live übertragenen Fernsehrede, dass er und seine Regierung beabsichtigen, die Justiz zu reformieren. Seine Reform habe zwei grundsätzliche Ziele, erklärt Erdogan: Die Ausweitung der Meinungsfreiheit – wohlgemerkt benutzt er nicht das Wort „Wiederherstellung“ – und natürlich die Verbesserung des Justizsystems.

Künftig würden Haftbefehle „mit Umsicht“ erlassen, das Demonstrationsrecht werde garantiert, Gerichtsprozesse würden gerechter gestaltet. Richter sollen keine Angst mehr davor haben müssen, in düstere Ecken Anatoliens verbannt zu werden, wenn sie ein missliebiges Urteil fällen. Prozesse würden beschleunigt und das Vertrauen der Bürger in das Justizsystem gestärkt. Das alles innerhalb der nächsten fünf Jahre.

Erdogan weiter: „Mit dieser Reform drücken wir unser Festhalten am Beitritt und der Vollmitgliedschaft in der EU aus, obwohl diese ihre Versprechen uns gegenüber nicht einhält.“

In Erdogans verwirrender Rede, die er vor dem Hintergrund eines Ausscherens weg von der westlichen Staatengemeinschaft hält, sowie in den Reformplänen selbst als auch der Art und Weise, wie er sie ankündigte, erkennen Beobachter vor allem ein weiteres Element der bewährten Erdogan-Taktik: Mehrere Ziele verfolgen, aber nicht die, die in der Botschaft angekündigt werden.

Einerseits versucht Erdogan die eigene Bevölkerung zu beruhigen, die angesichts der zahllosen Justizskandale zunehmend das Vertrauen in das System verliert. Andererseits verspricht er ein Reformpaket, das signalisieren soll, dass sich die Türkei weiterhin auf dem Weg in die EU befindet. Denn trotz aller Anti-EU-Kampagnen regimetreuer Medien will eine Mehrheit der Menschen ihr Land in der EU sehen.

Nicht ausgeschlossen, dass Erdogan sich zudem tatsächlich das Tor zur EU ein Stückchen offen zu halten versucht und sich strategisch wieder in eine günstigere Position bringen will. Gerade so, dass er weiter mit Brüssel verhandeln kann. Denn auch er hat ganz konkrete Ziele: Visafreiheit für seine Bürger und womöglich politische Unterstützung für seine militärischen Pläne in Syrien.

Ankara und Brüssel sind seit Jahren in einem Kuhhandel verstrickt. Den Europäern geht es um die Sicherung der EU-Ostgrenzen und das Fernhalten der Flüchtlinge von der EU. Die Türkei zockt um Visafreiheit. Die EU nannte dafür eine Reihe von Bedingungen die darauf ausgerichtet sind, die katastrophale Demontage der türkischen Justiz zu stoppen.

Aber kann das Regime in Ankara mit dieser Justizreform seine Ziele tatsächlich erreichen? Zweifel sind angebracht.

Kaum jemand glaubt, dass Erdogan nach jahrelanger autoritärer Politik plötzlich eine Kehrtwende vollzieht, zurück auf den Kurs Richtung liberale Demokratie. Dafür müsste er seine totale Kontrolle der Justiz aufgeben. Davon war jedoch in Erdogans Reformplänen keine Rede. Ohne die Wiederherstellung der Gewaltentrennung ist jedoch keine Demokratisierung möglich.

Das verbietet der EU, sich auf einen Deal mit Ankara einzulassen. Und das, obwohl die Aussicht auf neue Flüchtlingsströme Europas Politiker den Angstschweiß auf die Stirn treibt. Der politische Rechtsruck auf dem europäischen Kontinent erlaubt zur Zeit ohnehin keine Öffnung gegenüber der Türkei. Das legt auch der jüngste Türkei-Fortschrittsbericht der EU-Kommission nahe, der einen Tag vor Erdogans Medienshow veröffentlicht wurde. Die Türkei, konstatiert die Kommission, habe sich weiter von der EU wegbewegt und weise bei der Einhaltung der Menschenrechte „schwerwiegende Rückschritte“ auf.

Cem Sey
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