Berufliche Orientierung

Desorientierte Jugend

d'Lëtzebuerger Land du 31.08.2006

Steward bei der Luxair, das war Carlos Traum. Dass seine Klassenkameraden lästerten, das sei doch ein Frauenberuf, kümmerte den 15-Jährigen nicht. Um sich über die Ausbildung zu informieren, ging er zum Service de psychologie et d’orientation scolaires (Spos) seiner Schule. Von der Sozialarbeiterin bekam er freundlich einen Zettel in die Hand gedrückt, den Carlo daraufhin stolz seiner Lehrerin präsentierte. Das bittere Erwachen folgte af dem Fuße: Um Steward zu werden, ist ein 13e-Abschluss Voraussetzung; Carlos schulische Leistungen reichten aber nur für das Régime professionnel. Aus der Traum vom Fliegen.

"So etwas erleben wir öfters", sagt Claude Tonteling von der Action locale pour jeunes (ALJ). Die Organisation kümmert sich um Jungen und Mädchen, die auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz Hilfe wollen. Unzureichend bis gar nicht informierten Jugendlichen die Augen über ihre Berufswünsche und deren Realisierbarkeit öffnen, muss der Sozialarbeiter immer wieder - und das, obwohl nicht wenige von ihnen zuvor beim Spos waren und es eigentlich der Spos ist, der Schülern bei ihrer Karriereplanung beraten soll.

Eine schulinterne, nicht repräsentative Befragung bei ehemaligen Schülern der neunten Klasse des Lycée Aline Mayrisch vom Oktober vergangenen Jahres bestätigt die unwesentliche Rolle, die der schulpsychologische Dienst bei der Orientierung spielt: Nur knapp 20 Prozent der Schüler, die sich "gut orientiert fühlten", gaben an, dies dem Spos zu verdanken. Kritik an lücken- und fehlerhaften Beratungen äußern außer Schülern auch Berufskammern, Eltern und Lehrer seit vielen Jahren.Das ist auch der Grund, warum sich der Gesetzgeber nach langem Hin und Her in diesem Sommer zur Stärkung des Centre de psychologie et d’orientation scolaires (Cpos) entschloss. Ein mit inhaltlichen Weisungskompetenzen ausgestatteter Cpos soll Sorge dafür tragen, dass Angebot, Arbeitsweisen und Qualität der schulpsychologischen Dienste im Land einander angepasst werden (siehe d'Land vom 2. September 2005). Einheitliche Fortbildungen und inhaltliche Leitlinien sind in Arbeit; "une politique d'orientation cohérente sur le plan national" ist das erklärte Ziel.

Es betrifft aber nicht nur die Arbeit der Schulpsychologen und Erzieher. Sämtliche Akteure im Bereich der schulischen und beruflichen Orientierung sollen künftig besser und enger zusammenarbeiten. Dafür wurde eigens ein Koordinationskomitee im Gesetz vorgesehen. Jeden Monat treffen sich unter der Leitung von Cpos-Direktor Fari Khabirpour Vertreter von der Berufsberatung des Arbeitsamtes, vom Informations- und Dokumentationszentrum für Hochschulstudien (Cedies) und von der ALJ zum Austausch.

Anstatt dass jeder in der eigenen Ecke wurstelt, sollen die Angebote in Zukunft koordiniert und Änderungen schneller zugänglich gemacht werden. In der Vergangenheit war es wiederholt vorgekommen, dass Mitglieder des Spos und Lehrer an den Schulen über wichtige Neuerungen bei der Berufsausbildung keinerlei Kenntnis hatten. Vom neuen Ausbildungslehrgang zum Fachlogistiker beispielsweise erfuhren einige erst durchs Fernsehen. So dass die Anmeldungen für den neuen Lehrgang an manchen Schulen in letzter Minute erfolgten. "Unser Ziel ist es, derartige Informationen zu bündeln und künftig rascher an die zuständigen Services weiterzuleiten", verspricht Khabirpour.

Die neue Zusammenarbeit trägt erste Früchte. Bei der Foire de l'étudiant im vergangenen Jahr präsentierten sich die vier Beratungsdienste zum ersten Mal mit einem gemeinsamen Stand; eine Informationsbroschüre stellt zudem Dienste und deren Angebote vor. Bislang war es so, dass sich Hilfe suchende Jugendliche und Eltern an einen ihnen bekannten Service oder aber direkt an das Unterrichtsministerium wendeten, auf Gutglück und in der Hoffnung, irgendwann an den richtigen Ansprechpartner zu geraten.

Wer sich einen generellen Überblick darüber verschaffen will, was für Ausbildungswege und berufliche Möglichkeiten auf ihn nach der neunten Klasse warten, muss sich allerdings weiterhin durch das Grau diverser Einzelbroschüren von Berufskammern, Adem und Unterrichtsministerium kämpfen. Bis auf das Heft Was tun nach der 9e??, das auch in seiner Neuauflage von 2006 nicht jugendgerechter geworden ist, gibt es keine Broschüre, die sämtliche Ausbildungsgänge übersichtlich auflistet.

Zielgruppenorientierte virtuelle Anlaufstellen, wie die Internetsites www.berufenet.de oder www.was-werden.de, auf der Jungen und Mädchen mit wenigen Mausklicks ihren Traumberuf mitsamt den jeweiligen Qualifikationsanforderungen kennen lernen können, sucht man hier zu Lande ebenfalls vergebens. Die Adresse www.bif.lu, die einen Überblick über die technischen Berufe in Luxemburg bieten soll, ist seit fast einem Jahr abgeschaltet. Sie hatte sowieso von Anfang an gewisse Tücken: Wer etwa Fakten zum Koch abrufen wollte, brauchte für die Recherche Vorkenntnisse - und fand den Beruf schließlich unter Feinkoch gelistet. "Ein übersichtliches Internetportal könnte ein interessantes Projekt für die Zukunft sein", findet Cedies-Direktorin Dominique Faber, die mit im Koordinationskomitee sitzt.

Der fehlende Informationsfluss und die mangelnde Übersichtlichkeit sind, entsprechenden politischen Willen und Mittel vorausgesetzt, jedoch einfach zu lösende Probleme. Schwieriger dürfte es sein, eine Einigung bei der Frage des "Wie orientieren?" zu erzielen. Trotz einer Jugendarbeitslosigkeit von über 20 Prozent, von der unqualifizierte junge Menschen besonders betroffen sind, fehlt es in machen Branchen wie dem Handwerk und der Industrie an Fachkräften. In anderen Bereichen, im Sozialsektor und in den betrieblichen Verwaltungen, ist die Nachfrage nach Arbeitsplätzen jedoch größer als das Angebot. "Wir müssen die berufliche Orientierung unbedingt stärker an den realen Bedürfnissen der Wirtschaft ausrichten", meint deshalb Paul Krier von der Handwerkskammer. 1 000 zusätzliche Lehrstellen, davon 700 im Handwerk, haben die Arbeitgeber im Rahmen der Tripartite-Gespräche versprochen.

Das Argument von Betrieben und Berufskammern, "Theoretiker" in Schulen und Arbeitsamt würden zu oft am Arbeitsmarkt vorbei orientieren, ist aber mit Vorsicht zu genießen. Abgesehen davon, dass Jugendliche mit geringen Qualifikationen in einer Gesellschaft, die sich lebenslanges Lernen auf die Fahne geschrieben hat, konsequenterweise weiter zu qualifizieren wären und somit offene Arbeitsplätze besetzen könnten, sind die Unternehmerklagen vor allem Ausdruck eines grundlegenden Interessenkonflikts: Wo die Wirtschaft in erster Linie die Arbeitskraft sieht, stellen Spos-Mitarbeiter und Pädagogen die Entwicklung des Einzelnen, seine Zukunftswünsche und Vorstellungen in den Mittelpunkt ihrer Beratungen.

Aus Kananda importiertes, aufbereitetes pädagogisches Material soll dabei helfen: In der "éducation des choix" lernen Teenager, zunächst einmal die eigenen Fähigkeiten einzuschätzen. Keine einfache Aufgabe in einem Bildungswesen, das so wenig Platz für die persönliche Entfaltung lässt wie das luxemburgische. Und das mit seinem rigiden Notensystem die Selektion nach unten zum obersten Prinzip erkoren hat und damit allein schon jeden Versuch einer "gerechten" Orientierung im Keim erstickt. Die von der Handwerkskammer lästernd "orientation thérapeutique" genannte Ausrichtung der Orientierung ist, neben dem Bildungsauftrag, in Wirklichkeit ureigenster Auftrag der Schule.

Khabirpour, der eine engere Kooperation zwischen Spos, Adem und Arbeitswelt ausdrücklich befürwortet, weist auf Grenzen in der Zusammenarbeit zwischen Schule und Wirtschaft hin: "Unsere vorrangige Aufgabe besteht darin, den Schüler in seinen Kompetenzen zu stärken." Nur auf die Nachfrage des Arbeitsmarktes hin zu orientieren, kommt für den Psychologen nicht in Frage.

In einem anderen Punkt gibt Khabirpour den Betrieben und weiteren Nörglern allerdings recht: Die Orientierung beginne zu spät. Offiziell vorgesehen ist sie im technischen Sekundarunterricht ab der 9e, im klassischen ab der 4e. Dort sieht ein geplantes Projekt vor, die Orientierung in die verschiedenen Sektionen mit Hilfe von peer education zu organisieren. Ab nächstem Jahr sollen Studenten zukünftigen Abiturienten und Hochschulabsolventen erzählen, was sie auf den Unis konkret erwartet.

An sich eine gute Idee, doch die Orientierung in den unteren Klassen ist viel dringender. Es ist paradox, dass oftmals gerade jene Schüler, die aus unsicheren sozialen Verhältnissen kommen und Lernschwierigkeiten haben, die Weichen für ihr berufliches Leben besonders früh treffen müssen. Ihre Kollegen des klassischen Unterrichts hingegen haben Zeit bis nach dem Abitur, viele entscheiden sich sogar erst während des Studiums, mit 25 Jahren und später, welchen Beruf sie ergreifen.

Angesichts so weit reichender Entscheidungen könnte man annehmen, der Orientierung würde im technischen Lyzeum vergleichsweise viel Platz eingeräumt. Tatsächlich aber fällt er eher mickrig aus. Meist läuft es auf einen Besuch im Berufsinformationszentrum im zweiten Trimester der neunten Klasse hinaus. Um sich ein realistisches Bild über heutige Berufe und das eigene Können zu machen, sei das zu wenig, sagen Berufsberater, zumal im eine Vorbereitung und Nachbereitung im Unterricht oft nicht stattfänden. Projekte wie in Esch (Avanti), im Aline Mayrisch oder im Lycée agricole in Ettelbrück, bei denen Schüler schon ab der 7e in enger Zusammenarbeit mit den Berufsberatern der Adem auf die weitere Orientierung vorbereitet werden, haben Seltensheitswert - ihre Ausdehnung scheitert zudem an zu knappen Personalressourcen.

Am Ausbau bestehender Beratungskapazitäten dürfte der Staat kaum vorbei kommen: Die Schülerzahlen wachsen weiter und auch die Jugendarbeitslosigkeit ist weiter im Anstieg begriffen. Umso wichtiger wäre eine gute Ausbildung für alle. Ende des Jahres soll der Gesetzentwurf zur beruflichen Ausbildung kommen. Die Gelegenheit, um die berufliche Ausbildung und die Orientierung besser zu regeln.

Ines Kurschat
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